© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

Eine Fiktion, die den Weg in Führungsetagen ebnet
Das kulturelle Kapital von Lateinern
(ob)

Im Unterschied zum Erlernen moderner Sprachen könne man, wie der Kultursoziologe Jürgen Gerhards (FU Berlin) korrekt feststellt, mit dem Erwerb des Lateinischen den Kreis seiner Kommunikationspartner nicht vergrößern, weil diese Sprache nun einmal nicht mehr gesprochen werde. Deswegen sei auch das kultur- und bildungspolitische Interesse an der schulischen Vermittlung des Lateinischen lange kontinuierlich gesunken, und zwar schon seit der Zurückdrängung des Humanistischen Gymnasiums zu wilhelminischer Zeit. Trotzdem halte sich hartnäckig „der Glaube an die Versprechen, die mit dem Erlernen einer sogenannten alten Sprache wie Latein verbunden werden“. Doch das sei nur Folge einer „gesellschaftlichen Konstruktion“ nach dem Muster des Andersen-Märchens „Des Kaisers neue Kleider“. Wissenschaftlich sei nämlich nicht belegbar, daß, wie erhofft, Latein logisches Denken fördere, den Erwerb anderer Sprachen erleichtere oder das Gespür für die grammatikalische Struktur der Muttersprache verbessere. Trotzdem zeitige die „Fiktion“ von der Bedeutsamkeit des Lateinischen verblüffende Wirkungen. So habe sich der Anteil Latein lernender Schüler seit 1999 leicht von 26 auf 31 Prozent erhöht. Lateinkennern, denen, die Unterricht von der 5. Klasse an besuchten, werde weiterhin eine überdurchschnittliche Allgemeinbildung zugebilligt, was mit ihrer „symbolischen Aufwertung“ einhergehe. Die sich handfest auszahle, denn Lateiner würden mit einer „substantiell höheren Wahrscheinlichkeit“ bei Stellenausschreibungen für Führungspositionen zum Vorstellungsgespräch eingeladen (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2/2019). 


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