© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/19 / 22. November 2019

Im Namen der Toten
Bretagne: Die Denkmäler des Bildhauers René Quillivic spiegeln auch die kulturelle Identität des Landes
Karlheinz Weißmann

Es gibt wohl keine französische Stadt und kaum ein französisches Dorf ohne Ehrenmal für die Gefallenen. Gewöhnlich hat man sie nach dem „Großen Krieg“, dem Ersten Weltkrieg, errichtet und später die Namen der Toten des Zweiten Weltkriegs, aber auch der Kämpfe in den Kolonialgebieten hinzugefügt. Die Inschriften gedenken der „Kinder des Vaterlandes“, der „Söhne Frankreichs“, „Unserer Helden“ oder derer, die ihr Leben für die Nation gaben. Vielfach sind die Steine mit den Inschriften um ein Symbol ergänzt: den triumphierenden Hahn, die Marianne, eine Allegorie des Sieges oder den „Poilu“, der sich auf sein Gewehr stützt oder getroffen daliegt.

Die meisten dieser Monumente sind konventionell. Das gilt auch für die Bretagne. Allerdings bedeutete der Erste Weltkrieg für die Region im Westen Frankreichs eine Erschütterung, die noch schwerer war als für den Rest des Landes. Zwischen 1914 und 1918 sind mehr als 250.000 Bretonen gefallen. Das waren doppelt so viele wie im nationalen Mittel.

Der hohe Blutzoll stärkte das bretonische Sonderbewußtsein und führte zur Entstehung einer politischen und kulturellen Bewegung von außerordentlicher Lebendigkeit in den zwanziger und dreißiger Jahren. Geprägt war die einerseits von dem Wunsch nach größerer Selbständigkeit – bis hin zur Forderung nach Separation – und andererseits durch die Vorstellung, daß es möglich sein müsse, die eigene kulturelle Identität in eine moderne Formensprache zu bringen.

Die wichtigste Gruppe von Künstlern, die dieses Projekt verfolgte, nannte sich Seiz Breur, bretonisch für „Sieben Brüder“. Der Name spielte auf eine bretonische Legende an, und der Bezug auf die volkstümliche Überlieferung war für die Maler, Zeichner, Bildhauer, Architekten und Schöpfer der berühmten Faiencen von Quimper, die zu diesem Kreis gehörten, wie Jeanne Malivel, René-Yves Creston, James Bouillé, Xavier de Langlais oder René Quillivic von entscheidender Bedeutung. Aber sie wollten nicht einfach das Alte nachahmen oder Folkloristisches für den Tourismus liefern, sondern dem Besonderen des Bretonischen einen der Gegenwart entsprechenden Ausdruck geben.

Das Motiv der trauernden Frauen variiert vielfach

Im Fall Quillivics kann man das schon an der Neigung zur Reduktion bei seinen Holzschnitten wie seinen keramischen oder plastischen Arbeiten feststellen, aber auch an den mehr als zwei Dutzend Denkmälern, die er für die Gefallenen schuf. Das schlichteste und das aufwendigste liegen nahe beieinander. Das eine steht auf dem älteren Friedhof der Hafenstadt Roscoff an der Nordküste. Es dient der Erinnerung an die umgekommenen Seeleute und Marineinfanteristen und besteht nur aus einem imposanten Block, an den Seiten Kupferplatten mit getriebenen Darstellungen eines Matrosen und eines Soldaten, bekrönt von einem keltischen Kreuz.

Das andere dürfte dagegen die spektakulärste dieser Arbeiten sein. Es befindet sich im benachbarten Saint-Pol-de-Léon, das heute ein Vorort von Roscoff ist. Eingefaßt von einem Halbkreis aus architektonischen Elementen, die Tafeln mit den Namen der Toten tragen, erhebt sich ein Kruzifix im Stil eines bretonischen Calvaire. Davor steht eine Art Katafalk, auf dem ein gefallener Soldat liegt. Fernab von jedem Heroismus sieht man ihn, den typischen Helm zur Seite gerutscht, der Körper noch vom Todeskampf zusammengekrümmt, die verkrampfte Hand geht zur Kehle, das Gesicht ist verzerrt. Als Träger der Platte hat Quillivic vier Figuren dargestellt, die den pleurants, den Klagenden, ähneln, die an den Seiten der berühmten Grabmäler der Herzöge von Burgund stehen. Hier wie dort handelt es sich um anonyme Gestalten, die um ihren Angehörigen trauern: der Vater, die alte Mutter, die junge Witwe, die Braut.

Dieses Motiv hat Quillivic immer wieder aufgenommen und bemerkenswerterweise nicht die Kämpfer zum Thema gemacht, sondern die Hinterbliebenen. Das bekannteste, allerdings in ästhetischer weniger überzeugende, dürfte das Denkmal von Plozévet sein. Es zeigt einen älteren Mann, der neben einem Menhir steht, den Hut in der einen Hand, das Croix de Guerre, die höchste französische Tapferkeitsauszeichnung in der anderen, die er gegen die Brust drückt. Das Denkmal wurde am 2. September 1922 eingeweiht und zeigt eine konkrete Person: den Bauern Sébastien Le Gouill aus der Gemeinde, der im Krieg drei seiner Söhne und einen Schwiegersohn verloren hatte.

Diese Arbeit Quillivics ist insofern eine Ausnahme, als er bei den anderen Denkmälern immer eine Frau darstellte. Besonders eindrucksvolle Beispiele sind die Monumente, die er für seinen Heimatort Plouhinec und für Fouesnant entwarf. In Fouesnant steht es an der Längsseite der Kirche. Vor der Platte mit den Inschriften sieht man eine alte Frau in Tracht mit Haube. Sie hat die Hände vor dem Leib wie zum Gebet gefaltet, aber gleichzeitig spürt man etwas von ihrer Verzweiflung, die auch im Gesichtsausdruck und dem gesenkten Kopf zum Ausdruck kommt. Dieses Motiv der trauernden Mutter hat Quillivic für andere Monumente vielfach variiert, zuletzt noch für die „Mater Dolorosa“ an der Pointe Saint-Mathieu. Es handelt sich um eine hoch aufragende Stele, die vor allem mit keltisierenden Motiven verziert ist und in der Büste einer Trauernden endet, die in stummer Verzweiflung die Hände ringt.

Nationaldenkmal für Gefallene der Marine

Anders als bei den übrigen Arbeiten Quillivics handelt es sich hier um ein Nationaldenkmal, das der Erinnerung an alle gefallenen Angehörigen der französischen Marine dient. Diesen Charakter hat sonst nur noch ein weiteres Monument, das Quillivic erst nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hat. Vor einem überdimensionalen Lothringerkreuz – dem Symbol der Streitkräfte des Freien Frankreich – steht ein Seemann in stoischer Haltung. Es handelt sich um das Denkmal für die Getöteten, die den Widerstandskampf gegen die deutsche Besatzung unterstützten, nicht zuletzt dadurch, daß sie abgeschossene alliierte Piloten in aller Heimlichkeit über den Kanal setzten. Der Sockel trägt zwei Inschriften: auf französisch den Satz Charles Péguys „Der Soldat, der sich nicht geschlagen gibt, hat immer recht“, und auf bretonisch: „Lieber sterben“.

Die Ile de Sein markiert den westlichsten Punkt der Bretagne, der Landschaft Finistère, von finis terrae, „Ende der Welt“. Der Legende nach soll man vom Festland die toten keltischen Priester, die Druiden, auf die Insel übergesetzt haben, von wo sie ins Jenseits, in die andere Welt übergingen.