© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/19 / 29. November 2019

Wie sich die Zeiten gleichen – und die Helden
Laudatio auf Vera Lengsfeld: Debatte nicht selbsternannten Eliten überlassen und Lügen aufdecken, aber ohne Schaum vor dem Mund
Angelika Barbe

Der Gerhard-Löwenthal-Ehrenpreis für besondere publizistische Verdienste ist dem Journalisten Gerhard Löwenthal gewidmet, der im Osten von SED-Gegnern verehrt wurde und unter ihnen einen Kultstatus genoß. Der SED diktierte das „Leben der anderen“ im Arbeiter-und-Bauernparadies und die Sprache. Kritik war Hetze, und Kritiker Hetzer. Gerhard Löwenthal war der Anti-Schnitzler, der den SED-Machthabern über 20 Jahre mit seiner Sendung „ZDF-Magazin“ die Maske vom Gesicht riß. Die Entspannungspolitik bezeichnete er als „Wandel durch Anbiederung“. Westliche Geheimdienste hielten die Bedrohungslage Löwenthals durch RAF-Terroristen für sehr hoch. Löwenthal kämpfte gegen die westdeutsche Friedensbewegung, die von Stasi-Agenten durchsetzt war. Nach dem Mauerfall kam er in den Osten, um die Bürgerrechtsbewegung zu unterstützen. Vera Lengsfeld studierte Geschichte und Philosophie, engagierte sich seit 1981 in der DDR-Friedens- und Umweltbewegung und erhielt deshalb ein Berufsverbot. Am 17. Januar 1988 ging sie allein mit einem Plakat des Textes des Artikel 27 der DDR-Verfassung zur offiziellen Rosa-Luxemburg-Demonstration der SED: „Jeder Bürger der DDR hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern.“ Sie wurde festgenommen und wegen „Zusammenrottung“ zu sechs Monaten Haft verurteilt. Gegen ihren Willen wurde sie nach England abgeschoben. Am 9. November kehrte sie in die DDR zurück und erlebte den Mauerfall an der Bornholmer Straße.

 Sie wurde 1990 für die Grüne Partei in die erste freigewählte Volkskammer gewählt, dann für Bündnis 90 in den Bundestag. Erst nach der Öffnung der Stasiakten erfuhr sie, daß 49 Spitzel sie überwacht hatten. Die Linke will in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des linken Totalitarismus in Deutschland bis heute die Deutungsmacht behaupten und hat seit langem die Bürgerrechtsbewegung der DDR entmündigt und für sich instrumentalisiert.

 Vera Lengsfeld ist eine mutige unbeugsame Frau, wobei nicht der Gratismut unserer „Fridays for Future“-Hüpfjugend gemeint ist. Auch nicht der feige Kleinmut eines Thierse, der im DDR-Kulturministerium hinter der Gardine stand und erst Mitte Januar 1990 zur SPD stieß, um den Lohn jahrelanger Zivilcourage anderer einzuheimsen. Das Prädikat „Bürgerrechtler“ gab es zu DDR-Zeiten nicht. „Feindlich-negative Konterrevolutionäre“ wurden von der Stasi bespitzelt und als „subversive Elemente“ ausgegrenzt. Der Mut der Bürgerrechtler speiste sich aus der Überzeugung, daß ihr Widerstand gegen das Unrechtsregime sinnvoll war, obwohl sie nicht wußten, ob sie Erfolg haben würden. Ihre Waffe war die Wahrheit. Und zwar die ganze Wahrheit und nicht die halben Wahrheiten und ganzen Lügen Gysis oder Stolpes oder Merkels. 

Vera Lengsfeld spürte immer, wo die Wahrheit zu finden ist, auch wenn sie durch die Manipulation der Mächtigen oft bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet wird. Sie spürte sie als 16jährige bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 durch sowjetische Panzer und die Verleumdung der Toten durch die DDR-Medien als „Aufgehetzte“. Sie spürte sie 1996, als sie den Grünen den Rücken kehrte, und sie spürte sie, als Angela Merkel die Werte der CDU verriet und sich selbst ermächtigte. „Ein Gewissen haben heißt, sich dort die Freiheit zu nehmen, wo keine mehr ist. Wenn Gewissen Macht ist, dann eine Macht, die uns zur Freiheit fähig macht“. Ulrich Schacht ermutigt die Ohnmächtigen, ihrem Gewissen zu folgen und damit Freiheit zu gewinnen. Deshalb initiierte Vera die „Gemeinsame Erklärung 2018“, die zur Solidarisierung von friedlichen Protesten gegen die Masseneinwanderung und zur Wiederherstellung der „rechtstaatlichen Ordnung an den Grenzen unseres Landes“ aufrief und 100.000 Unterschriften erhielt. Ihr Gewissen schreibt ihr auch die Methode des Vorgehens vor: informieren, Fakten präsentieren und politisch bewerten, logische Widersprüche aufzeigen, die Debatte nicht den selbsternannten Eliten überlassen, Lügen aufdecken – aber nicht aggressiv argumentieren und kein Schaum vor dem Mund. Keine Gewalt –  ist auch ihr publizistisches Motto. 

Nach alter Überlieferung verliert jeder seine Hand, der sie in den „Römischen Mund der Wahrheit“ – ein steinernes Relief – steckt, wenn er auf eine Frage lügt. Die meisten Mainstream- Journalisten hätten Handprothesen, Vera nicht.