© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/19 / 29. November 2019

Hüter verborgenen Wissens
Unterschwelliger Überlieferungsstrom: Zum 75. Geburtstag des Schriftstellers und Dramatikers Botho Strauß
Michael Wiesberg

Botho Strauß’ 75. Geburtstag am 2. Dezember bietet nicht nur die Gelegenheit für eine Würdigung dieses großen Solitärs der deutschen Literatur, sondern auch für einen Blick auf dessen erzählerische Anfänge. Sie lassen zwar noch nicht auf das spätere Werk schließen, immerhin aber gibt der Buchverlag, der Strauß’ Debütwerk „Schützenehre“ 1975 publizierte, bereits einen vielsagenden Hinweis: Es war die Eremiten-Presse, die sich des Erstlings des Dichters annahm, den er 1963, im Alter von 18 Jahren, zu Papier brachte.

Die als Groteske angelegte Erzählung dreht sich um einen Schützenkönig, dessen Liebe zu der minderjährigen Töchter des Bürgermeisters ein Dorf in turbulente Auseinandersetzungen stürzt. Im selben Jahr erschien im übrigen noch ein zweiter Erzählband, nämlich „Marlenes Schwester“, der schon eher in jene Richtung wies, die Strauß fortan einschlagen sollte. Eindringlich sind die Bilder, mit denen er hier die Empfindungen der Liebe ins Wort setzt. Er besticht mit einer komplexen sprachlich-gedanklichen Subtilität, die immer wieder zu wiederholtem Lesen zwingt. All dies wird auch für sein späteres Werk prägend sein.

Sein erzählerisches Debüt eröffnet auch den Brückenschlag zu seinem gerade veröffentlichten Prosaband „Zu oft umsonst gelächelt“. Hier erweist sich der gern als Kulturpessimist apostrophierte Dichter als leichtfüßiger Komödiant, der in seinen erzählerischen Miniaturen den vielen Facetten der Liebe nachspürt. Manche der Figuren, die hier auftreten, haben Bühnenreife. Sie erinnern an jene Zeit, als Strauß als Theaterdramaturg der späten bundesrepublikanischen Gesellschaft keineswegs humorbefreit die Diagnose stellte.

Als Beleg für eine Art Altersmilde des Dichters sollten diese Miniaturen dennoch nicht hergenommen werden, zeigte sich Strauß doch in seinem 2018 publizierten Fragment „Der Fortführer“ ganz auf der Höhe seines kulturkritischen Werkes. Es sind Größen wie Meister Eckhart, Hölderlin, Goethe, Novalis, Schopenhauer, George, Borchardt, Ernst Jünger oder Heidegger, die er einem „unterschwelligen Überlieferungsstrom“ zurechnet. Strauß führt hier die romantische Tradition des Fragmentarischen fort und erteilt der modernen Welt und der „blöden Gescheitheit“ der Mediengesellschaft mit ihren „Gegenwartsnarren“ einmal mehr eine scharfe Absage. Was ihn dabei bewegt, umschrieb er in seinem autobiographischen Büchlein „Herkunft“ wie folgt: „Man altert, trotz der sozialen Bedeutungslosigkeit von Tradition, immer noch geradewegs in das hinein, was man einst als rettungslos veraltet empfand.“ 

Das Bewahren und Erinnern hat sich mit zunehmendem Alter in den Mittelpunkt seines Denkens und Schreibens geschoben. 2014 charakterisierte Strauß sich in einer Glosse als „ein Subjekt der Überlieferung“, das „außerhalb ihrer“ nicht existieren könne. Ihn treibt der „kulturelle Schmerz“ um, Schmerz über den Verlust oder Abbruch geistiger Überlieferung. Die heutigen „Sozial-Deutschen“, so sein Diktum, hätten keine Kenntnis der „Heroengeschichte“, die von Hamann bis Celan reiche; sie seien ähnlich entwurzelt wie diejenigen Millionen Entwurzelten aus aller Herren Länder, die sich nun zu ihnen gesellten. In seinem Schmerz stilisierte sich Strauß gar zum „letzten Deutschen“, in dem der Wille zum Festhalten am Tradierten noch manifest sei.

Bereits 1993 stellte er in seinem heftig debattierten Spiegel-Essay „Anschwellender Bocksgesang“ fest, die Überlieferung verende „vor der politisierten Unwissenheit“ der Erziehungs- und Bildungsstätten, „Horste der finstersten Aufklärung, die sich in einem ewig ambivalenten Lock- und Abwehrkampf gegen die Gespenster einer Geschichtswiederholung“ befänden. 

Strauß, einst der gefeierte Star des Feuilletons, hatte sich bereits vor diesem Essay als „Sonderling“ charakterisiert, der sich „am Rand“ verortet. 1987 warb er in „Niemand anderes“ für einen „neuen Typus des Außenseiters“, den er als „Eingeweihten des verborgenen Wissens“ bestimmte. Diese Positionsbestimmung hat er wohl am eindringlichsten in seinem Werk „Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit“ (2013) ins Wort gesetzt. Dort nutzt Strauß zur Kennzeichnung seiner Haltung den Begriff „Idiot“. „Idiot“ bezeichnet im Altgriechischen die Privatperson, die sich aus den öffentlichen und politischen Angelegenheiten heraushält und abgeschieden im Verborgenen lebt. 

„Am Rand“ hat sich Strauß keineswegs immer befunden. In den späten 1960er Jahren arbeitete er zunächst als Redakteur und Theaterkritiker der Zeitschrift Theater heute. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre wirkte er als Dramaturg an der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer, wo es zu einer intensiven Zusammenarbeit mit Peter Stein kam. Ende November 1972 reüssierte er mit seinem ersten Theaterstück „Die Hypochonder“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Seine Theaterstücke verzichten häufig auf einen stringenten Aufbau und zerfallen in Einzelstücke, die scheinbar unverbunden sind. Dazu kommt nicht selten eine starke Aufladung mit mythischen und übersinnlichen Motiven, was Strauß seitens der Kritik den Vorwurf eingetragen hat, seine Theaterstücke inhaltlich zu überladen.

1978 erhält er für die Erzählung „Die Widmung“ den Förderpreis des Schillerpreises des Landes Baden-Württemberg. Drei Jahre später folgt „Paare, Passanten“, eine Montage fragmentarischer Prosablöcke, in denen Strauß sein damals zentrales Thema wohl am nuanciertesten auf den Punkt bringt: den Menschen in einer desolaten Konsum- und Freizeitgesellschaft. 

Trotz seiner unüberlesbaren kulturkritischen Einlassungen blieb Strauß zunächst der gefeierte Star der Feuilletons. Die Wendejahre gehören mit zu den produktivsten Phasen des Dichters. Für seine Arbeit wird er 1989 mit dem Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet, der als renommiertester deutscher Literaturpreis gilt. Strauß gibt hier ein weiteres Beispiel seiner konsequenten Meidung von Öffentlichkeit: seine Dankesrede wird in seiner Abwesenheit verlesen. 

Im Februar 1993 kommt es dann mit der Veröffentlichung seines kulturkritischen Essays „Anschwellender Bocksgesang“ zu jenem Einschnitt, den der Germanist Stefan Willer in seiner im Jahre 2000 erschienenen Einführung in das Werk von Botho Strauß wie folgt auf den Punkt gebracht hat: Jede „auch nur oberflächliche Beschäftigung mit dem Schriftsteller Botho Strauß [sieht sich seither] mit einer Formel konfrontiert, die Standardassoziation, Etikett und Drohwort in einem ist: Anschwellender Bocksgesang“.

Warum Botho Strauß ausgerechnet den Spiegel, das Leitmedium genau jener linksliberalen Konvention, die er so vehement angriff, für die Publikation seines Essays wählte, ist bis heute Gegenstand von Spekulationen. Hat er,  die voraussehbaren Reaktionen auf seine Thesen antizipierend, seinen Essay womöglich ganz bewußt „inszeniert“? Für eine derartige Sicht spricht, daß Strauß auch in der Folge den Spiegel oder auch die linksliberale Wochenzeitung Die Zeit als Resonanzboden für Veröffentlichungen wählte, so zum Beispiel für seine Essays „Wollt ihr das totale Engineering?“ (Die Zeit, 52/2000) oder „Der Plurimi-Faktor“ (Der Spiegel, 31/2013), in dem er, irritierend genug, seine „Anmerkungen zum Außenseiter“ veröffentlichte. Strauß nimmt hier im übrigen eine wichtige Positionsbestimmung vor, wenn er „reaktionär“ von „konservativ“ zu unterscheiden versucht: „Der Reaktionär ist Phantast, Erfinder, der Konservative dagegen ein Krämer des angeblich Bewährten.“ Es darf davon ausgegangen werden, daß Strauß mit einer „reaktionären“ Lebenshaltung zumindest sympathisiert. 

Als Theatermann ist er nach den nicht enden wollenden Auseinandersetzungen um seinen „Bocksgesang“ spürbar weniger in Erscheinung getreten. „Das Theater hat mich inzwischen hinter sich gebracht“, stellte er 2003 lakonisch fest. Auf der Bühne habe er „ein Erotiker sein wollen“. Heute jedoch dominierten am Theater seiner Meinung nach „– ästhetisch oder buchstäblich – die Pornografen“.

Eine durchgehende Konstante im Straußschen Werk ist das Fragmentarische, das seine Vorbilder in der Romantik, aber auch bei Adorno hat. Das Fragment stellt sich in der Romantik gegen den normativen Formenkanon der Klassik mit deren enge Bindung an die Antike. Ihre Protagonisten seit Novalis wendeten sich der Suche nach der eigenen Kultur und ihrem Überlieferungsgut zu. Grundthemen sind Leidenschaft, Individualität und individuelles Erleben. Der Traum dient als Erkenntnisquelle. Die Grenzen der Wissenschaft und des Verstandes sollten transzendiert werden.

Romantiker wie zum Beispiel Novalis strebten eine Universalpoesie an, die Wissenschaft mit Dichtung verschmilzt. Motive, die auch in Strauß’ Werk an etlichen Stellen aufscheinen. Adorno hingegen, der zumindest für das Verständnis des Straußschen Frühwerks von großer Bedeutung ist, verstand die Kunst als „subversive Bewegung gegen die Gesellschaft“; Kunst sei das „Gedächtnis des akkumulierten Leidens der Menschheit“. Adorno bevorzugte das Fragmentarische, weil in ihm die Wahrheit der Kunst zum Ausdruck komme und er in ihm ein „Korrektiv für falsches Einheitsstreben“ (Frank Suppanz) erblickte. 

Der Literaturkritiker Volker Hage berichtete Ende der achtziger Jahre, daß die Lektüre Adornos Strauß die Glieder gelähmt habe. „Plötzlich hatte er Angst vor dem öffentlichen Auftritt. Diese Scheu hat Botho Strauß bis heute nicht überwunden.“ Er hasse „Lesetouren, verabscheut Fernsehkameras und redet am liebsten, wenn überhaupt, unter vier Augen“. Konsequenterweise verließ er Mitte der neunziger Jahre den Berliner Kulturbetrieb und zog sich in die Einsamkeit der Uckermark zurück. Seitdem umgibt Strauß die Aura eines Eremiten. Der Name des Verlages seiner Debüterzählung ist damit zum Omen für den intellektuellen Weg dieses Dichters geworden. 

Botho Strauß: Herkunft. Hanser, München 2014, gebunden, 96 Seiten, 14,90 Euro

Botho Strauß: Niemand anderes. Hanser, München 1987, gebunden, 224 Seiten, 17,90 Euro

Botho Strauß: Die Fehler des Kopisten. Hanser, München 1997, gebunden, 208 Seiten, 17,90 Euro

Botho Strauß: Der Fortführer. Rowohlt, Hamburg 2018, gebunden, 208 Seiten, 20 Euro

Botho Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Aufsätze. Carl Hanser Verlag, 2012, gebunden, 176 Seiten, nur noch antiquarisch