© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/19 / 29. November 2019

„Da muß doch noch Leebn ins Leebn“
Wolf Biermann: Am 1. Dezember 1989 gibt der Liedermacher nach einem Vierteljahrhundert Auftrittsverbot wieder ein Konzert in der DDR
Paul Leonhard

Wie ein Lauffeuer sprach es sich Ende November 1989 herum: Wolf Biermann, der verfemte Liedermacher, nach seinem legendären Konzert in Köln im November 1976 aus der DDR ausgebürgert, würde am 1. Dezember in der Messehalle 7 in Leipzig ein Konzert geben und am nächsten Tag ein weiteres mit Stephan Krawczyk und weiteren bislang verbotenen Liedermachern in Ost-Berlin. Bahnte sich hier ein – zumindest aus Sicht der Bürgerrechtler – historisches Ereignis an? Würde das Politbüro der SED den unversöhnlichen Barden tatsächlich einreisen lassen, wo doch seine frisch gedichtete „Ballade von den verdorbenen Greisen“ gefühlt stündlich in den westdeutschen Radiosendern gespielt wurde: „Hey Krenz, du fröhlicher kalter Krieger ... ich sah dein Gebiß beim Massenmord“.

Honecker-Nachfolger Egon Krenz war da sehr empfindlich. Denn auch der einstige FDJ-Chef fühlte sich als Revolutionär. Hatte er nicht in einer sorgfältig geplanten Aktion die halbtoten Genossen des Politibüros überrumpelt und den Saarländer Dachdecker zum Rücktritt gezwungen, hatte er nicht in Leipzig ein Blutbad verhindert? Und jetzt schleuderte ihm ein Biermann per linksalternativer taz am 18. Oktober 1989 entgegen, daß der „blöde Krenz, der mieseste aller möglichen Kandidaten“ ist, ein „versoffener FDJ-Veteran, der Jubelperser des Politbüros, der optimistische Idiot, Egon Krenz, das ewig lachende Gebiß“.

Krenz ließ das Neue Deutschland, das Zentralorgan des Politbüros der Einheitspartei, mitteilen, daß einer wie Biermann, der unter „Kultur des Dialogs (…) wider Sitte und Anstand das Schmeißen mit solchem Dreck versteht (…), bei uns völlig fehl am Platze“ ist. Prompt verweigerten ihm die Grenzsoldaten am 4. November die Einreise, als er auf Einladung von Bärbel Bohley an der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz teilnehmen sollte. Auch ein geplanter Auftritt in der Ost-Berliner Samariterkirche scheiterte knapp zwei Wochen später am gültigen Einreiseverbot.

In Leipzig waren Ungewißheit und Andrang entsprechend groß. 5.000 Besucher waren voller Erwartungen in die kalte, zugige Messehalle gekommen. Und als Biermann dann tatsächlich auf der Bühne stand, eine rote Blume in der Hand, sichtlich bewegt die ersten Worte sprach und schließlich zur Gitarre griff, rollten bei vielen die Tränen. Die wenigsten hatten ihr Idol bisher live gehört – Biermanns Auftrittsverbot in der DDR war vor 25 Jahren ausgesprochen worden. Die meisten kannten trotzdem die Texte, die der Stasi- oder Populärballade oder jene vom preußischen Ikarus. Sie kannten die Songs vom heimlichen Mitschnitt des im Deutschlandfunk übertragenen Kölner Konzerts oder von mit der Hand vervielfältigten Papieren. Einige hatten sich auch vom Begrüßungsgeld auf ihrer ersten Westreise Biermann-Platten geleistet.

Bewegender Auftritt von „Staatsfeind“ Jürgen Fuchs

Biermann hatte seine Lieder für den Leipziger Auftritt sorgfältig ausgewählt. Man merkte dem 53jährigen an, daß dieser am liebsten alles singen wollte, die ganz neue und die ganz alten Balladen, die politischen und die über das allzu Menschliche. Für „Ach, die erste Liebe“ bat er seine einstige Muse, die ebenfalls von der SED in den Westen entlassene Schauspielerin und Sängerin Eva-Maria Hagen, auf die Bühne. Was spielte da für eine Rolle, daß die Akustik in der Halle grottig war, der Nachhall acht Sekunden betrug und die Zuhörer, um sich vor der Kälte zu schützen, immer näher aneinander rückten.

Es war aber nicht allein Biermanns großer Auftritt, sondern vor allem der des Schriftstellers Jürgen Fuchs. Daß dieser mutige Mann ihn begleiten durfte, hatte der Liedermacher zur Bedingung gemacht. Fuchs war zwar nicht so populär wie Biermann, hatte aber im Gegensatz zu diesem in der DDR nie Privilegien genossen, hatte wegen „staatsfeindlicher Hetze“ 281 Tage im Stasi-Knast gelitten und nach seinem Rauswurf aus der DDR 1977 unermüdlich, alle Morddrohungen der SED ignorierend, die systematischen Menschenrechtsverletzungen im „Arbeiter- und Bauernstaat“ angeprangert. „Ich schweige nicht“, hatte er 1978 trotzig ein Gedicht überschrieben.

Noch kurz vor dem Konzert hatte er DDR-Kulturminister Dietmar Keller in Berlin eine Liste mit 77 zur Ausreise gedrängten Schriftstellern vorgelegt. Diesen Verfemten müsse die sofortige Rückkehr erlaubt und ihre Bücher umgehend veröffentlicht werden.

Auch im Rückblick haben die damaligen Worte von Fuchs nichts von ihrer Bedeutung verloren: „Der Bann ist gebrochen, der Stalinismus hat nicht gewonnen. Eine demokratische Revolution hat begonnen, in Warschau, Moskau, Budapest, Leipzig, Budapest und Prag. Es gab Verbote, Demütigung, Haft, Rausschmisse. Wir Schriftsteller müssen vor allem das freie Wort retten.“ Es dürfe kein Sortieren mehr geben, die ganze Wahrheit, die ganze Vielfalt der Literatur müsse anwesend sein.

Biermann war nicht mehr der Kulminationspunkt

Fuchs, der noch im Westen bis 1989  Zielobjekt der Stasi war,  erinnerte auch an jene, für die der demokratische Aufbruch zu spät kam, weil „die ewigen großen Zeiten so lange doch nicht dauerten“, aber doch lange genug, für einige zu lange. „Wie sehr hätten sie es sich gewünscht, diesen Tag, diese Situation jetzt hier mitzuerleben: Robert Havemann, Heinz Brandt, Manès Sperber, Ernst Bloch.“ Diese Männer, die gegen die Faschisten und – als sie erkannten, was wirklich los war – gegen die Stalinisten kämpften, seien „authentische Linke, die deutsche Opposition, die sich nicht korrumpieren ließ, die in kein Politbüro einer Einheitspartei ging“.

Biermann kam als bekennender Kommunist in die im Umbruch befindliche DDR. Für sein „Ich leb ja den Traum der Commune noch immer“ wäre er wohl außerhalb der Messehalle gnadenlos ausgepfiffen worden. Und sein ebenfalls vorgetragenes „Großes Gebet der alten Kommunistin Oma Meume in Hamburg“ mit dem Wunsch „Oh Gott, laß Du den Kommunismus siegn!/Gott, glaube mir; Nie wird der Mensch das schaffn“ hätte nur Beifall gefunden, wenn das Wort „siegn“ im breitesten Sächsisch ausgesprochen worden wäre.

Das Konzert in Leipzig war getragen von der Hoffnung, daß ein „menschlicher, demokratischer“ Sozialismus sich vielleicht doch durchsetzen ließe. „Was für bittere Jahre und wie groß die Chance, die wir haben“, sagte Fuchs. Draußen auf der Straße tickten die Uhren schon anders. Dem SED-Regime war es gelungen, die Herrschaft über die Grenzübergänge zurückzugewinnen. Es konnte die Reisefreiheit zwar nicht mehr aufheben, aber um so genauer und gesetzloser filzte der Zoll die Bürger. Lästig war für die SED nur, daß die Menschen weiterhin demonstrierten.

Als Biermann Ende Januar 1990 auf Einladung der Vereinigten Linken in Dresden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zwei jeweils vierstündige Konzerte gab, war seine Euphorie schon gedämpfter: „Am 1. Dezember in Leipzig war alles noch etwas anders, da hatten noch die etwas zu sagen, die in der Opposition standen“, jetzt würden die „gelernten Untertanen mit geschwellter Brust die bundesdeutschen Fahnen schwenken und alle Linken lynchen wollen“.

„Ich bin nicht hergekommen, um euch über euer Land zu belehren. Da weiß ich noch weniger als ihr. Ihr müßt wissen, was ihr wollt.“ Die Wiedersehensfreude des Leipziger Konzerts war vorbei, die Welt hatte sich schneller gedreht, als die Bürgerrechtler gedacht hatten, und Biermann war nicht mehr der Kulminationspunkt einer sozialistischen Opposition, deren einstige Mitglieder aber auch heute noch gern seine alten, allzeit gültigen Lieder singen: „Das kann doch nicht alles gewesen sein/da muß doch noch irgendwas kommen! nein/ da muß doch noch Leebn ins Leebn/ eebn.“