© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/19 / 29. November 2019

Die Crux der deutschen Vergangenheitsbewältigung
Unbeabsichtigt offengelegt in einer Studie über „Carl Schmitt und seine Schuld“
Dirk Glaser

Selbst tiefste Erschütterungen, wie sie die Geschichte des 20. Jahrhunderts prägen, so lautet der Befund der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, hält das kollektive Gedächtnis eines Volkes nur drei Generationen lang, etwa 75 bis 90 Jahre, in lebendiger Erinnerung fest. Von heute an, wo die vierte Generation seit Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wird, müßten dieser Regel gemäß die aus der alten wie der neuen Bundesrepublik nicht wegzudenkenden öffentlichen Auseinandersetzungen über die „Schuld der Deutschen“ während ihrer dunklen Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 also abebben. Ein Prozeß, der tatsächlich schon mit hoher Dynamik in Gang ist. Weil, was Assmanns 25 Jahre alte Theorie noch nicht berücksichtigte,  die neudeutsche „diversifizierte Einwanderungsgesellschaft“ (Thomas Krüger, Bundeszentrale für politische Bildung) nicht mehr auf gemeinsame Erinnerungen zurückgreifen kann, um ihren sozialen Zusammenhalt zu festigen.

Schmitt war nach 1945 „verstockt und uneinsichtig“

Vor diesem Hintergrund wirkt ein Aufsatz mit dem Titel „Carl Schmitt und seine Schuld“ (Der Staat, 2/2019) seltsam antiquiert. Wie eine Flaschenpost aus der Zeit der „Entnazifierung“ und der erhitzten Nachkriegsdebatten pro und contra deutscher „Kollektivschuld“. Über die Motive, die den emeritierten Jenaer Philosophen Michael Kodalle bewogen, Carl Schmitt (1888–1985) abermals unter solchen bemoosten Vorzeichen seinen „persönlichen Anteil an der juristischen Fundierung des nationalsozialistischen Regimes“ vorzuhalten, läßt sich nur spekulieren. Zumal, wie Kodalle selbst andeutet, dieser exklusiv  unter den geschichtspolitisch so speziellen wie provinziellen bundesdeutschen Wahrnehmungsmustern bedeutsame biographische Aspekt für die weltweite Schmitt-Rezeption der letzten Jahrzehnte nahezu belanglos war.  

Vielleicht empfindet Kodalle, 1943 im oberschlesischen Gleiwitz geboren, es selbst als ein penetrant gegen Schmitt ins Feld geführtes „moralisches Versagen“, daß er zu Lebzeiten des Staatsrechtslehrers dessen „abgründige Biographie“ nie thematisierte. Nicht einmal in seiner schmalen Studie über „Politik als Macht und Mythos“ (1973), die dazu reichlich Gelegenheit geboten hätte, handelt sie doch über dessen „Politische Theologie“. 

Offenbar, weil er dies damals unterließ, stellt Kodalle jetzt „die Frage nach der Schuld des politisch agierenden Gelehrten und die nach seiner Rechenschaft – oder anders: die nach seiner Verarbeitung der eigenen Vergangenheit“, in den Mittelpunkt seiner Reflexionen. Wobei er sich für das nur allzu bekannte „Belastungsmaterial“, Schmitts Publizistik von „Der Führer schützt das Recht“ (1934) bis zu den Vorträgen auf der Tagung „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“ (1936) oder die Details über sein Engagement bei der „Gleichschaltung“, auf die Moralhungrige gut sättigende Biographie Reinhard Mehrings stützt, die im Urteil des Carl-Schmitt-Experten Günter Maschke vernichtend durchfiel (JF 43/09).

„Erinnerungarbeit“ mündet in „Charakterwäsche“

Daraus zimmert der Religionsphilosoph Kodalle, den seine Berufung von Hamburg nach Jena 1992 anregte, sich in die nach dem Untergang der DDR aufgeworfenen mitteldeutschen „Schuldfragen“ zu vertiefen, die schließlich in den Entwurf einer „Philosophie der Verzeihung“ mündeten, die übliche Anklage gegen den nach 1945 „verstockten und uneinsichtigen“ Schmitt, der „in öffentlicher Rede“ partout keine „Schuld- und Schamgefühle“ äußern mochte. Ein Verhalten, das ihm jene ansehnliche Riege von Kollegen und Schülern zubilligte – Rudolf Smend und Ernst-Wolfgang Böckenförde finden sich ebenso darunter wie der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes –, die der darob erkennbar konsternierte Kodalle alle ausführlich zitiert, und die zu seinem Bedauern nicht „dem Geist strenger Abrechnung mit NS-Belasteten“ huldigten. Und unter denen der langjährige Bundesverfassungsrichter Böckenförde von einem „nachgeholten Spruchkammerverfahren“ explizit nichts wissen wollte. Ja sich sogar eine im Urteil des Verzeihungsdenkers Kodalle ganz unverzeihliche, weil „ziemlich konziliante Reaktion auf Schmitts durchgängigen Antisemitismus“ gestattete.

Trotzdem bietet dieser überflüssige Versuch, Schmitt ins „Spannungsfeld von Reuelosigkeit, gelebter Nachsicht und politischer Ächtung“ zu versetzen, um mit ihm schlicht wieder kurzen Prozeß zu machen, eine exemplarische Lektion in Sachen Vergangenheitsbewältigung. Deren Crux der religiös ambitionierte Kierkegaard-Kenner Kodalle unbeabsichtigt offenlegt, wenn er fortwährend darauf beharrt, Schmitt hätte sich einer „ernsthaften Gewissensprüfung“ unterwerfen müssen, um zu „echter Reue“ und ehrlichem „Bewußtsein von Schuld“ zu gelangen. Welche praktische Konsequenz hätte das haben sollen?

Kodalle schweigt sich darüber aus. Vielleicht weil dieser auch von Schmitt belehrte kluge Kopf ahnt, daß „Erinnerungsarbeit“ (Assmann), die lediglich auf „Buß und Reu’“ abstellt, nichts als eine „Charakterwäsche“ (Caspar von Schrenk-Notzing) bewirkt, die nur neue Heere von Mitläufern und Lippendienern mobilisiert. „Lehren aus der Vergangenheit“, so wie der Demokratie-theoretiker Schmitt sie etwa mit Analysen der jede Staatlichkeit zerstörenden NS-Diktatur offerierte, konnten unter solchen Prämissen schwerlich gezogen werden. Wie die aktuelle Verhöhnung des wohlfeilen „Nie wieder!“ durch Angela Merkels besinnungslosen Antisemiten-Import genauso beweist wie ihr „populistisch“ bisher mehrheitsfähiger Versuch, dem Irrationalismus ein politisches Comeback zu verschaffen und den Normenstaat im permanenten Ausnahmezustand grenzenloser „Willkommenskultur“ aufzulösen.