© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/19 / 29. November 2019

Den Volkszorn umlenken
Anfang Dezember 1989 drangen DDR-Bürger in die Stasi-Zentralen ein – teilweise gesteuert von der SED
Paul Leonhard

Surrende Überwachungskameras, die auf stacheldrahtbewehrten Mauern stumm auf die Menge zoomen. Hinter den Toren herrscht, abgesehen von kläffenden Hunden, gespenstische Stille. Hunderte haben sich am Nachmittag des 5. Dezember 1989 vor der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit an der Bautzener Straße in Dresden versammelt. Seit Stunden sehen sie zu, wie dort schwarzer Rauch aufsteigt. Die Menschen sind sich sicher: Hier werden Akten, werden die Beweise für das Spitzelsytem vernichtet. 

„Keine Gewalt“, mahnen immer wieder die Frauen und Männer, die an ihren Armbinden als Mitglieder des Neuen Forums erkennbar sind. Man habe Anzeige erstattet, warte auf das Erscheinen von Staatsanwälten. 

Die Erfurter haben es zu diesem Zeitpunkt schon hinter sich. Sie sind die ersten, die ihren ganzen Mut zusammennehmen und sich am Mittag des 4. Dezembers den Zugang zur örtlichen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit erzwingen und diese seitdem besetzt halten. Ähnliche Aktionen folgen am gleichen Tag in Suhl, Magdeburg, Rostock und Leipzig. Vorausgegangen ist ein Aufruf einer Berliner Initiativgruppe des Neuen Forums, die die Bürger zu mehr Wachsamkeit auffordert. In Erfurt ist das Flugblatt vervielfältigt und in der Nacht zum 4. Dezember in 3.700 Hausbriefkästen verteilt worden. 

Als sich die Dresdner drohend mit Plakaten vor dem Gebäudekomplex auf der Bautzener Straße versammeln, ist die Situation schon eine andere, wenn das auch keiner der Demonstranten weiß. Die SED ist in ihrem Überlebenskampf bereit, ihre 85.000 hauptamtliche Mitarbeiter umfassende Schutzorganisation („Schild und Schwert der Partei“) zu opfern. Die Idee stammt offenbar von Hans Modrow. Der von seiner Partei zum Ministerpräsidenten ernannte bisherige SED-Bezirkssekretär von Dresden hatte sich mit dem Dresdner OberbürgermeisterWolfgang Berghofer – beide wurden später wegen Anstiftung zur Wahlfälschung verurteilt – und Stasi-General Markus Wolf eine neue Strategie zur Rettung der SED ausgedacht. 

Bereits Wochen vorher werden Akten vernichtet

Da weder Grenzöffnung noch Aufgabe der Führungsrolle und auch der Rücktritt von Zentralkomitee und Politbüro am 3. Dezember nicht ausreichen, den Druck der Straße zu mildern, soll der Volkszorn auf die verhaßte Staatssicherheit gelenkt werden, die seit Wochen befehlsgemäß Akten vernichtet. Am 4. Dezember verkündet Generalstaatsanwalt Günter Wendland, daß das eine Straftat ist. Polizei und Staatsanwaltschaften – die der SED unterstehen – müssen jetzt per Gesetz einschreiten, wenn Bürger Aktenvernichtungen anzeigen. In Dresden ist das am Nachmittag des 5. Dezember der Fall. Gleichzeitig werden Sicherheitspartnerschaften zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft sowie der Bürgerbewegung verkündet. So sichern die Genossen ab, daß sie das Heft des Handelns in der Hand behalten. 

Daß die Dresdner Stasibesetzung mehr mediale Aufmerksamkeit findet als die Erfurter hat zwei Gründe: Sie bahnt sich über Stunden an, und sie findet quasi in Sichtweite des sowjetischen KGB-Sitzes mit dessen an dem Abend anwesenden Agenten Wladimir Putin statt: Würden die Besatzer, die in Dresden und Umgebung über eine Gardepanzerarmee verfügen, auch das Ausschalten des SED-Geheimdienstes dulden?

Die Angst, daß es doch noch zu einem Blutvergießen kommt und sowjetische Panzer zum zweiten Mal einen Volksaufstand in der DDR niederwalzen, ist groß. Viele Ältere, die auf der Straße waren, erinnern an den 17. Juni 1953. Damals hatte man die SED- und Stasi-Sitze gestürmt, an einigen Orten konnten sogar politische Gefangene befreit werden. 

Als Initialzündung für die republikweite Besetzung der Kreis- und Bezirksdienststellen der Staatssicherheit gilt ein vom Berliner Rundfunk ausgestrahltes Interview, in dem ein Stasi-Mitarbeiter von der Aktenvernichtung berichtet. Daß das bereits von der SED aktiv gelenkt ist, vermutet der Historiker Christian Booß in seinem im Deutschland Archiv 1/2010 erschienenen Aufsatz „Vom Mythos der Stasi-Besetzungen“. Die einzige authentische Besetzung sei die in Erfurt gewesen. 

Die Menschen auf der Straße sind dagegen in nahezu allen Bezirks- und vielen Kreisstädten überzeugt, durch ihre schiere Anwesenheit den bewaffneten Geheimdienst in die Knie gezwungen zu haben. Entsprechend groß ist die Euphorie. Übersehen wird dabei, daß sich die Bürgerbewegung durch ihre Partnerschaft mit den staatlichen Organen kontaminiert hat. Modrows Konzept, er hatte es schon im November seinen Stasi-Generalen vorgestellt, die Bürgerrechtsbewegung durch Einbeziehung in die Verantwortung zu entzaubern und die Partei wieder in die Offensive zu bringen, scheint aufgegangen.

Erfolgreicher PR-Coup der SED-Regierung

Statt vom Volk ausgegrenzt zu werden, sitzen die SED und die anderen Blockparteien ein paar Tage später als gleichberechtigte Verhandlungspartner mit den Revolutionären am zentralen Runden Tisch. „Damit beginnt der Aufstieg der Blockparteien und der Niedergang der Bürgerbewegten“, konstatiert Historiker Booß: „Aus der Beinahe-Konfrontation von Staat und Bevölkerung zwischen dem 3. und 5. Dezember wird somit ein PR-Coup der Regierung.“ 

In den folgenden Wochen schocken immer neue Enthüllungen über informelle Mitarbeiter die Menschen. Fast übersehen wird dabei, daß die Berliner Zentrale in der Normannenstraße noch immer ihre Funktion als „Schild und Schwert“ der Partei getreulich erfüllt. Erst am 15. Januar wird diesem Treiben ein Ende gesetzt. Die SED überdauert bis heute.