© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/19 / 29. November 2019

Der Aufstand der Massen blieb aus
Gilles Kepels meisterhafte Analyse des Geschehens im Nahen Osten in den letzten Jahrzehnten
Paul Leonhard

Im noch immer schwelenden Syrienkonflikt haben sich mit bislang unbekannter Geschwindigkeit Allianzen gebildet, haben sich aufgelöst und neu zusammengefunden. Ein Beispiel: Während der Operationen, die letztlich zur Vernichtung des „Islamischen Staats“ (IS) führten, bekämpften sich vier Gegner: die Türken mit ihren Hilfstruppen aus syrischen Rebellen, die syrischen Kurden mit ihren arabischen Alliierten, die Truppen der Hisbollah und der „Loyalisten“, die zu al-Assad standen, sowie der IS. Obwohl dieser der offiziell zu bekämpfende Feind war, lieferten sich die anderen drei Gruppierungen untereinander begrenzte Scharmützel, während die USA und Rußland mit Spezialkräften und Luftwaffeneinsätzen ständig präsent waren. 

Diese Operation stehe sinnbildlich „für die Konflikte, die den Krieg in Zukunft verlängern werden, mit seinem Flechtwerk aus ethnischen, konfessionellen und ideologischen Fragen“, schreibt Gilles Kepel in seiner meisterhaften Analyse „Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen“. Der französische Orientalist  zeichnet detailliert die politisch-religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung jener Region nach. Geopolitische Karten und eine Zeittafel ergänzen das Werk.

Die Einordnung des Syrienkriegs, der aus Kepels Sicht ob seiner Ausdehnung als „eine Art postmoderner Weltkrieg“ gelten kann, sei der „unerläßliche Schlüssel für ein Verständnis sowohl der aufeinanderprallenden Kräftekonstellationen als auch der zu ergreifenden Mittel, um das Chaos zu überwinden und die Region wieder aufzubauen“.  

Ausgangspunkt für das Chaos im Nahen Osten ist der Jom-Kippur-Krieg 1973 gegen Israel, mit dem Ägypten und Syrien die 1967 verlorenen Golan-Höhen und den Sinai zurückgewinnen wollen sowie die von den arabischen Erdölförderländern beschlossene Erhöhung der Rohölpreise um 70 Prozent, die die westliche Wirtschaft erschüttert und zu einer erneuten Islamisierung der politischen Ordnung in der Region führt. Zu einer Spaltung kommt es, als die durch den Ölexport reich gewordenen Dynastien der Wahhabiten in Saudi-Arabien und den Golf-Emiraten, die eine sunnitische Auslegung des Korans durchgesetzt hatten, mit der Islamischen Revolution im schiitisch geprägten Iran und dem Auftreten Ayatollah Chomeinis einen Gegenspieler erhalten. Fortan ist der Antagonismus von Sunniten und Schiiten die wichtigste Triebfeder von Krisen und Kriegen.

Wendet sich der Dschihad zwischen 1980 und 1997 gegen den „nahen Feind“, also gegen fremde Truppen und „Ungläubige“ in muslimischen Ländern wie Afghanistan, Algerien, Ägypten und Bosnien, führt al-Quaida zwischen 1998 und 2005 in einer zweiten Phase des Dschihadismus weltweit Terrorakte durch. Der erhoffte Aufstand der muslimischen Massen bleibt aber aus.

Die dritte Generation der Dschihadisten vernetzt sich im Internet. Erfolgreich werden weltweit Muslime indoktriniert. Radikalisiert führen sie Attentate auf „Ungläubige“ aus oder ziehen in den bewaffneten Kampf. Im Irak und Syrien kann die Terrororganisation IS große Gebiete besetzen und erst durch eine „Koalition von sich eigentlich feindlich gesonnenen Gegnern“ vernichtet werden. Eine Niederlage, die aus Sicht der Dschihadisten aber lediglich eine „göttliche Prüfung“ darstellt, da sie ihren Sieg am Ende als unvermeidlich ansehen.

All diesen Entwicklungen spürt Gilles Kepel in seinem gut lesbaren Werk nach. Er analysiert die Entwicklungen in Tunesien, Ägypten, im Libanon, Iran und Irak sowie die Kriege in Syrien, Libyen und im Jemen. Den führenden westlichen Politikern wirft er Blindheit vor. Über ihrem Jubel über den Sieg anscheinend demokratischer Kräfte während des „Arabischen Frühlings“ hätten sie nicht sehen wollen, was bei dem internen Kampf unter Muslimbrüdern, Salafisten und Dschihadisten um die weltweite Vorherrschaft über den Islam auf dem Spiel steht. Erst die Verkündung des „Kalifats“ durch den IS 2014, der sich zum Epizentrum des internationalen Dschihadismus entwickelt, und die zunehmende Anzahl von Terroranschlägen in Europa habe die Westmächte zu einer militärischen Offensive gegen den IS und andere Dschihadisten gezwungen. 

Rußland nutzte Syrienfrage außenpolitisch geschickt

Die zehn Millionen im Bürgerkrieg Geflüchteten hätten auch die politische Landschaft Europas erschüttert, wo allein mehr als eine Million Syrer Zuflucht fanden. Deutschland, Italien und Ungarn attestiert Kepel „Anwandlungen zu einer Rückkehr zum Totalitarismus“, die den dauerhaften Bestand der EU in Frage stellen. 

Nicht erfüllt haben sich die Sehnsüchte der Kurden, die im Zuge des Syrienkrieges hofften, einen eigenen Staat gründen zu können. Selbst eine Autonomie einer Kurdenregion im Nordosten Syriens sehen Iran, Irak und speziell die Türkei als Bedrohung ihrer nationalen Souveränität. Die panische Angst des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vor einem Machtzugewinn der Kurden erkläre auch die Loslösung der Türkei aus der amerikanisch-sunnitischen Achse und die Annäherung an Rußland. 

Rußland wiederum, das aus Sicht Kepels dank „seiner meisterhaften Bewältigung der Syrienfrage“ wieder zur Großmacht aufgerückt ist, sieht in einem Abzug aller ausländischen Truppen aus Syrien die Voraussetzung für eine Stabilisierung. Ob ein Ausweg aus dem syrischen Konflikt für Rußland über Verhandlungen mit den Westmächten erreichbar ist? Kepel setzt hier ein Fragezeichen. Andererseits sei ein Konsens zur Zukunft Syriens unabdingbar für eine Wiedereingliederung der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens in die Weltordnung.

Gilles Kepel: Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen. Kunstmann Verlag, München 2019, gebunden, 494 Seiten, 28 Euro