© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Sozialistische Träumereien
SPD-Vorsitz: Bewerberduo Esken/Walter-Borjans gewinnt die Mitgliederwahl
Björn Harms

Als die kommissarische SPD-Bundesvorsitzende Malu Dreyer am Samstag kurz nach 18 Uhr die Bühne im Willy-Brandt-Haus betrat und das Ergebnis verkündete, brandete vor allem bei den anwesenden jüngeren SPD-Mitgliedern lauter Jubel auf: Bei der zweiten Mitgliederbefragung zum SPD-Parteivorsitz hatten 53,06 Prozent für die Bundestagsabgeordnete Saskia Esken und den ehemaligen Finanzminister aus Nordrhein-Westfalen, Norbert Walter-Borjans, gestimmt. Finanziminister Olaf Scholz und die Potsdamerin Klara Geywitz zogen mit 45,33 Prozent den kürzeren. 

Die Wahlbeteiligung der rund 425.000 SPD-Mitglieder lag bei lediglich 54,09 Prozent. Dennoch sorgt die Entscheidung für ein bundespolitisches Erdbeben: Esken und Walter-Borjans drohen, die Große Koalition nur dann fortsetzen zu wollen, wenn bei zahlreichen Themen neu verhandelt wird. Zu diesen Forderungen zählen unter anderem eine finanzpolitische Abkehr von der schwarzen Null – Deutschland brauche dringend ein Investitionspaket, bekräftigte Walter-Borjans wiederholt auf den Regionalkonferenzen –, ein Mindestlohn von 12 Euro und eine Nachbesserung des Klimapakets.

Wird die CDU also einknicken? Die führenden Unions-Vertreter wollen davon nichts wissen. Laut der Welt gab die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp- Karrenbauer noch am Montag in einer Telefonkonferenz die klare Losung aus: Keine Nachverhandlung des Koalitionsvertrags! CSU-Chef Markus Söder hatte bereits am Sonntag Fußballanalogien bemüht: „Keine Mannschaft verläßt zur Halbzeit das Spielfeld“, so der bayerische Ministerpräsident. „Bloß, weil ein Parteivorsitzender wechselt, verhandelt man keinen Koalitionsvertrag neu.“

Falls es also nicht zu einer Neuverhandlung kommt, wären theoretisch vier Optionen denkbar: Zunächst gilt die Fortsetzung der GroKo in ohnehin angespannter Arbeitsatmosphäre als am wahrscheinlichsten. Auf dem Parteitag der SPD an diesem Wochenende, bei dem Esken und Walter-Borjans offiziell als Parteivorsitzende bestätigt werden sollen, wird sich diese Frage entscheiden.

Einfluß der Jusos gilt als entscheidend für die Wahl

Andererseits könnte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Vertrauensfrage stellen und damit den Weg für Neuwahlen frei machen. Zudem wäre auch ein Rückzug der SPD-Minister vorstellbar. Dann müßten CDU und CSU eine Minderheitsregierung bilden. Friedrich Merz (CDU) sprach sich am Montag für eine solche Lösung aus.

Eher abwegig sind hingegen erneute Verhandlungen mit FDP und Grünen über eine Jamaika-Koalition. Zum einen dürften die Grünen wegen ihres Umfragehochs ein gesteigertes Interesse an Neuwahlen haben. Zum anderen ist bereits die Hälfte der Legislaturperiode vorüber: Bis sich die neuen Minister eingearbeitet hätten, würde schon die nächste reguläre Bundestagswahl vor der Tür stehen.

„So recht glaube ich nicht an Neuwahlen, weil ich nicht weiß, wen die SPD als Spitzenkandidaten aufstellen will“, zeigte sich der frisch gewählte Ehrenvorsitzende der AfD, Alexander Gauland, im Phoenix-Interview skeptisch. „Das neue Duo kennt ja niemand.“ Die Entscheidung deutete er als „Desaster für die SPD“, das „ihren Niedergang weiter beschleunigen“ werde.

Für Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) hingegen scheint das Szenario Neuwahlen nicht ganz unwahrscheinlich. „Wir bereiten uns auf Neuwahlen vor oder den Zerfall der CDU, wenn sie den weiteren zu erwartenden Forderungen der Sozialdemokraten nachgeben.“ Sein Parteikollege Konstantin Kuhle forderte zudem Scholz’ Rücktritt als Finanzminister. „Das ist ein ganz klares Mißtrauensvotum seiner Partei. Er müßte eigentlich zurücktreten.“

Dabei hatte sich die SPD-Parteiführung eindeutig in Richtung Olaf Scholz und Klara Geywitz positioniert. Daß die basisdemokratische Entscheidung möglicherweise unerfahrene Kandidaten, denen es an Führungsqualitäten und Kompromißbereitschaft mangelt, an die Spitze der Partei spülen würde, hatte das Establishment zutiefst beunruhigt. Doch dieser Fall ist nun eingetreten.

Das ist nicht zuletzt dem Einfluß der Jusos zu verdanken, die sich frühzeitig für einen Linkskurs unter Esken und Walter-Borjans eingesetzt und damit die Bundestagsfraktion vor den Kopf gestoßen hatten. Das Tischtuch zwischen den beiden streitenden Lagern gilt als zerschnitten. Auch auf dem Parteitag der Jusos vor zwei Wochen in Schwerin flog das eine oder andere scharfe Wort in Richtung Bundestagsfraktion. „Am Nikolaus ist GroKo-Aus“, tönte die bayerische Landeschefin des Parteinachwuchses, Anna Tanzer, unter dem Jubel der knapp 300 Delegierten.

Das Treffen der Jusos erinnerte dabei eher an eine Veranstaltung der MLPD. Die Delegierten beschlossen das neue Grundsatzprogramm „Projekt: Linkswende Sozialdemokratie“. 

„Wir Jusos halten ein Privateigentum an Produktionsmitteln für unvereinbar mit einer demokratischen und sozialistischen Wirtschaftsordnung“, heißt es darin gleich zu Beginn. Zudem fordern sie ein „globales Recht auf Migration“ und langfristig eine „europäische oder weltweite Staatsbürger*innenschaft“. Auf dem kommenden Parteitag in Berlin kandidiert Juso-Chef Kevin Kühnert für einen Vizeposten. Ein weiterer Fingerzeig in welche Richtung es bei der SPD geht?

Saskia Esken twitterte bereits im Januar 2018: „Wer Sozialismus negativ verwendet, hat halt einfach keine Ahnung.“ Trotz ihrer 58 Jahre gilt die Bundestagsabgeordnete als politisch unbeschriebenes Blatt. 

Über die Landesliste 2013 ins Parlament eingezogen, erschöpften sich ihre vorherigen politischen Ämter im Vorsitz des SPD-Kreisverbands Calw, einem Sitz im Gemeinderat sowie im stellvertretenden Vorsitz des Landeselternrats Baden-Württemberg. Walter-Borjans’ Erfolge als NRW-Finanzminister sind ebenfalls überschaubar. Am ehesten blieben einem der Kauf von illegalen Steuer-CDs und mehrere Landesetats mit hoher Neuverschuldung, die von Gerichten als „verfassungswidrig“ gerügt wurden, im Gedächtnis haften.

Alte Sozialdemokraten wie Gerhard Schröder blicken nicht nur deshalb mißtrauisch in die Zukunft. Er habe das Verfahren ohnehin für unglücklich gehalten, murrte der Altkanzler nach der Wahlentscheidung im Spiegel. „Und das Ergebnis bestätigt meine Skepsis.“