© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Die Abschaltung bezahlt nicht Greenpeace
Energiepolitik: Der „Kohlekompromiß“ kostet nicht nur Milliarden, er gefährdet auch die Versorgungssicherheit
Marc Schmidt

Im Januar feierte die Bundesregierung den 336seitigen Kommissionsbericht zum „Kohlekompromiß“ als Durchbruch (JF 6/19): Bis 2022 sollen demnach nicht nur alle deutschen Atomkraftwerke komplett vom Netz, sondern zusätzlich Braunkohlekraftwerke mit einer Kapazität von drei Gigawatt (GW) sowie Steinkohlekraftwerke mit vier GW von insgesamt 45 GW Kohlekapazität stillgelegt werden. Bis 2030 sollen weitere sechs GW Braunkohle und sieben GW Steinkohle vom Netz. Das letzte der derzeit etwa hundert Kohlekraftwerke soll möglichst 2035, aber spätestens 2038 abgeschaltet werden.

„Den Kohleausstieg massiv beschleunigen“?

Damit wäre nach der Schließung der letzten Steinkohlezeche (Prosper-Haniel in Bottrop) im Dezember 2018 auch das Ende des Braunkohlentagebaus im Rheinland und in Mitteldeutschland besiegelt. Grüne, Linke und „Fridays for Future“ wollen schon 2030 dem „Klima-Killer“ Kohlekraft den Garaus machen. Auch CSU-Chef Markus Söder sieht das so, denn die „Klimaziele“ seien „nur zu erreichen, wenn wir den Kohleausstieg massiv beschleunigen“, erklärte der bayerische Ministerpräsident im Münchner Merkur. „Am Ende müßten wir eigentlich im Jahr 2030 aussteigen.“

Da sich nur die AfD für die Kohle einsetzt, gibt es keine Mehrheit, um zu verhindern, daß Deutschland perspektivisch zum lukrativen Absatzmarkt für französisch-tschechischen Atom-, polnisch-slowakischen Kohle- oder indirekt für russisch-amerikanischen Erdgasstrom wird. Hinzu kommen die versprochenen Strukturhilfen für die Kohleländer NRW, Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Zusammen mit der Abfederung des Energie- und Fernwärmepreisanstieges sowie den Entschädigungen für Kraftwerkseigner belaufen sich die offiziellen Ausstiegskosten auf mindestens 100 Milliarden Euro – ohne Einrechnung der Effekte für die Steuer- und Sozialversicherungskassen sowie die Netzinfrastrukturen.

Die Höhe der Entschädigungen ist umstritten. Während RWE, Uniper, Leag & Co. insgesamt mehr als 25 Milliarden Euro fordern, hat die Bundesregierung bisher für 2020 lediglich eine Milliarde Euro vorgesehen. Auch bei den Berechnungsgrundlagen zeichnet sich kein Kompromiß ab. Das Bundeswirtschaftsministerium bietet im Bereich Braunkohle pro Gigawatt Erzeugungskapazität, die vom Netz geht, etwa 600 Millionen Euro Entschädigung aus Steuermitteln an. RWE fordert bislang bis zu 1,5 Milliarden Euro. Ein Verhandlungsergebnis sollte dem „Kohlekompromiß“ zufolge bis Mitte 2020 erzielt werden. Auch dieses Ziel scheint unrealistisch, selbst wenn die ersten Gesetze ohne Regelungen zu diesen zentralen Fragestellungen beschlossen werden.

 Ungeklärt ist zur Zeit auch noch die föderalistische Verteilung der Folgekosten. Hier droht ein CDU-interner Machtkampf zwischen Angela Merkel als Verfechterin der Kommissionsergebnisse und einem ihrer potentiellen Nachfolger, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet. Bereits 2020 werden in der Region Köln-Aachen bis zu 3.000 Arbeitsplätze wegfallen, für die NRW mehr Bundesmittel fordert. Zudem will Laschet das neue Steinkohlekraftwerk in Datteln (1,1 GW Kapazität, JF 48/19) in Betrieb nehmen, auch um hier weitere Schadensersatzansprüche zu vermeiden. Keine Sorgen um Details machen sich die zeitgeistigen Klimapaniker. So stürmten am Wochenende Berufs- und Freizeitaktivisten von Greenpeace, Extinction Rebellion (XR), Antifa & Co. zwei Tagebaue der Lausitzer Leag – unter dem Protest regionaler Gegendemonstranten.

Mit den Besetzungen gingen Blockaden der Schienenverbindung zwischen dem Tagebau und dem Kraftwerk Jänsch­walde einher, welches nur noch mit den Notfallreserven auf dem Gelände am Laufen gehalten werden konnte. Die Blockaden wurden wenige Stunden vor dem Zusammenbruch der Fernwärmeversorgung für Cottbus und Peitz durch Notabschaltung des Kraftwerks aufgelöst, das Kraftwerk selbst wurde durch ein massives Polizeiaufgebot vor einer möglichen Erstürmung geschützt.

„Görlitzer Erklärung“ der betroffenen EU-Regionen

Keine hundert Kilometer vom Tatort entfernt hatten wenige Tage zuvor Vertreter von 14 europäischen Kohleregionen aus Polen, Spanien, Deutschland sowie der Slowakei und Tschechei in Görlitz eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Und die 260 Teilnehmer des dritten Treffens der 2017 gegründeten EU-Kohleplattform geizten nicht mit Kritik. So verlaufe die bisherige Umsetzung des Pariser Klimaabkommens in den betroffenen Regionen teilweise zu schnell und unkoordiniert. Durch das Fehlen eines verläßlichen Ausstiegspfads würden die Interessen der Betroffenen vernachlässigt, was zu fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz führe.

Die Unterzeichner verlangen weitreichende wirtschaftliche Kompensationen für die Regionen sowie einen Einsatz von „Clean-Coal-Technologien“, bei denen die energetische Nutzung von Kohle ohne CO2-Emissionen möglich sein soll. Die Erwartungsliste liest sich in Teilen wie eine unbeabsichtigte Abrechnung mit den Entwürfen der Ausstiegsszenarien des Kohlekompromisses. Dessen als verbesserungsbedürftig empfundene Maßnahmen thematisieren auch die Beihilfeverbote der EU, welche die Unterzeichner in den Kohleregionen gern deutlich gelockert wissen wollen. Diese Lockerung sollte auch für die Fördermittel für Strukturwandel gelten. Neben der Ansiedlung neuer Forschungseinrichtungen sollten auch neue Verwendungsmöglichkeiten (Biodünger aus Lausitzer Braunkohle?) oder die erleichterte Neuansiedlung von Großunternehmen unterstützt werden.

Trotz des fiskalisch-bürokratischen Tonfalls ist die „Görlitzer Erklärung“ politisch brisant, weil eine Verlangsamung des Kohleausstiegs nicht zur Programmatik der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen (CDU) paßt. Für die Umsetzung der Forderungen wäre zudem an einigen Punkten die Zustimmung des EU-Parlaments notwendig.

Doch das hat sich mit der Ausrufung des „Klimanotstands“ klar positioniert: Eine Verlangsamung des Kohleausstiegs oder die Forschung zur weiteren Kohlenutzung dürfte dort keine Mehrheit haben. Die Zukunft der Kohleregionen wird daher wohl vom Steuerzahler, den Stromkunden und den Sozialversicherungen finanziert – wenn nicht nach mehreren Blackouts ein Umdenken einsetzt. Denn Wind und Sonne schicken zwar keine Rechnung, können aber allenfalls nur im Jahresdurchschnitt Kohle- und Atomstom ersetzen. Bei Dunkelflauten droht spätestens ab 2030 ein echter deutscher „Stromnotstand“ – selbst dann, wenn es bis dahin noch nicht zehn Millionen energiehungrige E-Autos auf deutschen Straßen gibt.

Stromerzeugung und Kraftwerksbestand:

 umweltbundesamt.de/

 www.smard.de

„Görlitzer Erklärung“ der EU-Kohleregionen:

 www.medienservice.sachsen.de