© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Kulturkampf „Down Under“
Australien: Die Linke versucht am australischen Selbstverständnis zu rütteln. Sie stößt dabei auf erbitterten Widerstand
Jörg Sobolewski

Ross McKay nimmt kein Blatt vor den Mund: „Ich war vor einem Jahr in München, war nicht sehr europäisch da.“ Noch vor dem ersten Glas Wein geht es sofort ans Eingemachte. Der stämmige Australier schaut sein Gegenüber neugierig an: „War das so beabsichtigt mit den Flüchtlingen?“ Sein deutscher Gesprächspartner windet sich, spricht von „humanitärer Verpflichtung“, doch den Einwand wischt der Veteran der australischen Luftwaffe beiseite: „An unseren Küsten ist seit Monaten niemand mehr ertrunken. Warum? Na, weil es keine Chance gibt, in Australien zu bleiben, wenn man illegal ankommt. Also macht sich auch keiner auf den Weg. Wieso macht ihr das nicht auch so?“ Ratlos zuckt der Deutsche mit den Achseln. 

„Keiner kann dem Streit davonlaufen“

Wer sich als Westeuropäer in Australien bewegt, wird sehr schnell feststellen, daß den meisten Einheimischen politische Korrektheit herzlich egal ist. Sicher, auch hier versuchen die üblichen linken Ideologen Einfluß auf Wortwahl und Gesprächsthemen zu nehmen, aber in den meisten Fällen erfolglos. 

Weiterhin fährt Australien die weltweit strikteste Politik im Umgang mit illegalen Einwanderern und immer noch verstehen sich die meisten Australier als Einwohner eines Landes mit europäischen Wurzeln und nicht eines multiethnischen Konstrukts. Daran ändert auch die kürzlich erfolgte Sperrung des Ayers Rock aus Rücksicht auf die Ureinwohner des Landes nichts. 

Wer sich auf die Suche nach den Gründen für die spezifische Sturheit der Australier in politischen Dingen begibt, der stößt sehr schnell auf das britische Erbe der einstigen Kolonie. Hier herrscht noch eine lebendige Kultur der offenen und mitunter auch rauhen Debatte, in der auf die Gefühle der Beteiligten eher selten Rücksicht genommen wird. 

Ob beim Bier im Pub oder beim Fünf-Uhr-Tee im botanischen Garten – nach den üblichen zehn Minuten Smalltalk geht es ans Eingemachte. Gänzlich unbritisch kann es dabei auch hin und wieder laut und heftig zugehen, schlußendlich versöhnt man sich natürlich wieder, meist über Bier und Cider, denn trinkfest sind sie auch, die Australier. 

Mit der eigenen Meinung aus Furcht vor sozialen Konsequenzen hinter dem Berg halten? „Lächerlich“, meint Neil Enders. „Meine Frau hat immer schon Labor gewählt, aber ich bin eben ein Wechselwähler und manchmal streiten wir uns halt über Politik.“ 

Der freundliche Rentner hat zu Wein und Käse in sein westaustralisches Heim geladen. Ein großes Haus in bester Lage in der Kleinstadt Bunbury, Einrichtung und Gastgeber verströmen die gleiche australische Gelassenheit, die so viele Europäer an der australischen Gesellschaft anziehend finden. 

Warum denn ausgerechnet in Australien die Leute so eine offene Debattenkultur pflegen würden? „Weil wir weit weg von allem sind und deswegen keiner vor dem Streit davonlaufen kann“, wirft seine Frau lachend ein. Ihr Mann wiegt den Kopf, er sieht den Grund eher in der vergleichsweise ländlichen Sozialstruktur des riesigen Landes. „Was an liberalen Lehrstühlen erdacht wird, entfaltet hier einfach nicht die Breitenwirkung wie in Europa. Wir bestehen doch fast nur aus Kleinstädten und Dörfern.“ 

Der Unternehmer und Vorsitzende der Handelskammer für das südliche Western Australia, David Kerr, sieht die Ursachen für die verblüffende Offenheit der Australier in politischen Dingen hingegen im nationalen Selbstverständnis: „Wir haben von den Engländern die Demokratie mit auf den Weg bekommen, das ist richtig. Aber was uns vor allem ausmacht, ist der Glaube, notfalls alles mit den eigenen Händen schaffen zu können. Die Politik trägt dem Rechnung, Steuersenkungen und ein investitions- und unternehmerfreundliches Klima sind tatsächlich häufig wahlentscheidende Punkte.“ 

Konservative Denkschmiede setzt Zeichen 

Warum denn dabei keiner das Gefühl habe, zu kurz zu kommen? „Australier bitten nicht gern um etwas, Sozialhilfe zu beanspruchen ist hier verpönt. Die geschlossenen Grenzen und die große Entfernung zu anderen Staaten haben außerdem dazu geführt, daß unsere Löhne seit Jahren nicht von Zuwanderern gedrückt werden konnten. Auch der Angestellte hat das Gefühl, seine Arbeit sei eben etwas wert – das läßt keinen Platz für Parteien und Ideologien, die die Gesellschaft vor allem als Ansammlung unterschiedlicher benachteiligter Minderheiten sehen.“ 

Ob das nicht eine Sichtweise sei, die die großen Städte außer acht lasse? „Teilweise, Sydney und Melbourne sind letztlich sehr europäische Städte – auch in bezug auf Multikulturalismus und ähnliches –, aber schon Perth paßt nicht mehr in das Schema. Als Zentrum der weltgrößten Bergbaukonzerne ginge das auch schlecht.“ 

Tatsächlich ist besonders der politische und der vorpolitische Raum in Australien einen zweiten Blick wert. Es zeigt sich dabei eine klare Unterteilung in zwei Lager: die National Party als rechter Rand des Parlaments hält die ebenfalls konservative Liberal Party auf stramm konservativem Kurs. Zusammen bilden beide Parteien, mit einigen Unterbrechungen, seit 1923 die „Liberal-Nationale Koalition“, die etwa für die strikte Einwanderungspolitik verantwortlich ist und meist ihren Rückhalt in den traditionell sehr konservativ und landwirtschaftlich geprägten Staaten Queensland und Western Australia hat.

 Demgegenüber steht die immer noch mächtige Labor-Party, die gemeinhin als „sozialliberal“ charakterisiert wird und in Tasmanien, Victoria und Southern Australia ihre Stammwähler hat. Der bevölkerungsreichste Bundesstaat, New South Wales, nimmt die Rolle einer politischen Wetterfahne ein. 

Soweit die Lage vor den Kulissen, hinter den Kulissen haben die australischen Konservativen aber einige Trümpfe im Ärmel, ihre eigenen „think tanks“. 

Während in der Bundesrepublik Denkfabriken der klassischen Rechten erst im Entstehen begriffen sind, hat der australische Konservatismus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs machtvolle Denkschmieden zur Hand, die in der öffentlichen Debatte mit eigenen Statistiken und Untersuchungen zu Worte kommen. 

Eines der ältesten dieser Institute ist das 1943 gegründete Institute of Public Affairs. Im Nachgang der, auch in Australien spürbaren, Auswirkungen der Studentenrevolte 1968 übernahm das Institut eine entscheidende Rolle als intellektuelle Speerspitze der antisozialistischen Rechten in Australien.

 Über die Jahre wuchs die Einrichtung zu einem ernstzunehmenden Spieler im akademischen Betrieb heran, zu seinem siebzigsten Geburtstag 2013 verfügte das Institut über etwa zwei Millionen Euro Jahresbudget. Ein gut vernetzter und vergleichsweise vermögender „think tank“, der zu seinen Veranstaltungen regelmäßig Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Klerus vereint. Über die Jahre ist daraus für die politische Linke, die dem Institut Einfluß und Finanzkraft neidet, ein institutiongewordener Gottseibeiuns entstanden. 

Freilich verfügt auch die Linke über einflußreiche Institutionen, etwa die eng mit der australischen Sozialdemokratie verbundene Evatt Foundation, die in Auftreten und Inhalt europäischen Vereinigungen des vorpolitischen Raumes aus dem linken Spektrum ähnelt. Aber anders als in Europa erfolgt auf jeden linken Vorstoß eine sofortige fundierte und einflußreiche Antwort aus dem rechten Spektrum. 

Es entsteht so der Eindruck einer ausbalancierten öffentlichen Debatte, die keineswegs einen „Rechtsdrall“, sondern vielmehr Freude am demokratischen Ausgleich hat. 

Den Hippies ein Schnippchen geschlagen 

Dies galt bisher auch für die Debatte um Klimawandel und CO2-Ausstoß. Wohl nirgendwo auf der Welt wird so ernst, aber auch kontrovers diskutiert, inwieweit der Mensch für die Veränderungen des Klimas – unter denen Australien in dieser Saison besonders leidet – verantwortlich ist. Profitieren können davon erstmals in größerem Maße auch die bisher irrelevanten australischen Grünen. 

Wie sich diese neue Stimme auf die öffentliche Debatte auswirken wird, bleibt abzusehen. Zumindest bisher beweisen vor allem die Politiker des rechten Spektrums eine erstaunliche Kreativität im Umgang mit linken Forderungen. 

Als unlängst an Premier Scott Morrison der Wunsch herangetragen wurde, künftig in seinen Grußadressen die „ursprünglichen Bewohner des Kontinents“ gesondert zu begrüßen, war der stets verbindlich auftretende Morrison sofort dazu bereit, mit einer Änderung: Seit einigen Wochen grüßt der wichtigste Politiker des Landes regelmäßig die Aborigines und kurz darauf alle anwesenden aktiven Soldaten und Veteranen der australischen Streitkräfte. Dies sei ihm ein Herzensanliegen, schließlich „riskierten diese ihr Leben für das Australien, in dem wir alle zu Hause sind“. 

Ross lacht, als er davon erzählt: „Da hat der schlaue Fuchs den Hippies mal wieder ein Schnippchen geschlagen.“ Dann aber verabschiedet er sich von der Runde, es ist Melbourne Cup – und immer noch ist das größte Pferderennen des Landes wichtiger als jede Politik. Dort zelebriert Australien sein britisches Erbe bis zum Exzeß, die Damen unter ausladenden Hüten und die Männer in dunklen Anzügen, so mancher wettet sich auch schnell um mehrstellige Summen. 

Ein klassenübergreifendes Ereignis im reichen australischen Sportkalender, das einige notorisch griesgrämige Spaßbremsen aus diversen Redaktionsstuben in Sydney oder Melbourne mit Abscheu betrachten. 

Nicht tiergerecht, nicht gendergerecht und überhaupt viel zu veraltet, läßt sich in Nischenblättern häufig lesen. Dem durchschnittlichen Australier ist das hingegen egal, bis zu hunderttausend von ihnen drängen sich auf dem Festgelände und auch in den heimischen Wohnzimmern wird mitgefiebert – etwa 80 Prozent der Australier plazieren eine Wette auf eines der teilnehmenden Tiere, sagen zumindest die Wettbüros. 

Das australische Klischee vom hemdsärmeligen, freundlichen, aber zupackenden „Aussie“, der sich herzlich wenig um künstliche Aufregung oder Mode schert – in den meisten australischen Gemeinden ist es Realität, und wenig weist darauf hin, daß sich das in naher Zukunft ändert.