© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Die gewaltigen Schätze des Seismographen
Eine neue Filmdokumentation über Ernst Jünger ist überwiegend sachlich gehalten, bleibt aber ungenügend
Karlheinz Weißmann

Frage: Was motiviert eine neue Filmdokumentation über Ernst Jünger? Gegenfrage: Bedarf es einer besonderen Motivation? So oder so ähnlich muß man sich wohl den Schluß des Entscheidungsprozesses vorstellen, der dazu geführt hat, daß der Film „In den Gräben der Geschichte“ zustande kam, den Arte am 27. November ausgestrahlt hat. Die Dokumentation von Regisseur Falko Korth ist noch drei Wochen lang, bis zum 26. Dezember, in der Mediathek des Senders zu sehen. Alles in allem eine ordentliche Arbeit, die nichts ausgesprochen Falsches, Unsinniges oder Bösartiges bietet, aber auch nicht den großen Wurf. 

Das ahnt der Zuschauer schon zu Beginn. Der Untertitel des Streifens lautet „Der Schriftsteller Ernst Jünger“. Aber mit dem ersten Satz wird er als „Schriftsteller und Käfersammler“ präsentiert, was vielleicht nur überraschen soll oder einen despektierlichen Beiklang hat oder die Unentschiedenheit der Verantwortlichen signalisiert. Für die letzte Option spricht, daß die Stimme aus dem Off die Lebensgeschichte Jüngers zwar einigermaßen zuverlässig schildert, unterlegt mit den altbekannten Bildern: von der Herkunft aus einer bürgerlichen Familie der wilhelminischen Zeit über den ersten Ausbruchsversuch – die gescheiterte Flucht in die Fremdenlegion – die Meldung als Kriegsfreiwilliger 1914, die Anfänge und den Durchbruch als Schriftsteller, die Parteinahme für den revolutionären Nationalismus, das ambivalente Verhältnis zu Hitler, die Bedeutung des Arbeiters, die Phase der Inneren Emigration, die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg, die Rolle im besetzten Paris, das Verhältnis zum Widerstand und – sehr kursorisch – die Nachkriegszeit. Aber ansonsten beläßt man es bei ein paar Leitfragen und verschwindet im übrigen hinter einer bunten Reihe von Stellungnahmen, darunter denen des Soziologen Armin Nassehi sowie der Literaturkritiker Julien Hervier und Iris Radisch. 

Heimo Schwilk betont den „kalten Blick“ Jüngers

Bemerkenswert erscheint immerhin, daß die Frage, ob Jünger ein Judenhasser und „Wegbereiter“ war, nicht alles andere dominiert. Aber die Mahner und Warner dürfen natürlich nicht fehlen, die aus überlegener Sicht den „Antihumanisten“, „Antiliberalen“, „Antidemokraten“ kritisieren, der in der „heutigen, aufgewühlten Zeit“ zum gefährlichen Stichwortgeber werden könnte. Selbstverständlich darf in dem Zusammenhang die Pariser „Burgunderszene“ nicht fehlen. Und der unvermeidliche Historiker Volker Weiß geißelt nicht nur die „Amoral“ Jüngers, der „nicht in der Lage“ gewesen sei, zu begreifen, wohin sein Schreiben notwendig führen mußte, sondern auch zuverlässig vor dessen Indienstnahme durch die Neue Rechte warnt. Deren Vertreter kommen sicherheitshalber nicht zu Wort, weshalb die interessante Frage unbeantwortet bleibt, wie genau die Rezeption durch die „rechtsnationalen“ oder gar „rechtsextremistischen“ Denker aussieht.

Abgesehen davon überwiegt der sachliche Ton. Die Biographen Jüngers, Heimo Schwilk und Helmuth Kiesel, kommen ausreichend zu Wort und können die eine oder andere Plattheit korrigieren. Schwilk hebt die Bedeutung des „kalten Blicks“ hervor, Kiesel die Notwendigkeit, die üblichen „Vorurteile“ im Hinblick auf Jünger zu überwinden und endlich zur Kenntnis zu nehmen, daß man es mit einem „Zeitzeugen reflektiertester, interessantester Art“ zu tun habe. Diese Sicht der Dinge hätte gewiß die Zustimmung Jüngers gefunden, der sich zuletzt gern als „Seismograph“ oder „Barometer“ betrachtete, das die Katastrophen des 20. Jahrhunderts angezeigt, aber nicht verursacht habe.

Die Lektüre Jüngers öffnete Neo Rauch Türen

Es bleiben allerdings Zweifel, daß das die ganze Wahrheit ist. Auch die allzu wohlmeinende Sicht seiner Person und seines Werkes droht ihm viel von dem zu nehmen, was ihn so faszinierend und zu einem der großen Autoren macht. Schon deshalb wird man dankbar sein für die Breite, in der die Dokumentation den Maler Neo Rauch zu Wort kommen läßt. In einem sehr persönlichen Bekenntnis äußert Rauch, daß für ihn die in den 1990er Jahren begonnene Lektüre Jüngers „Türen geöffnet“ und „unmittelbar stilbildend“ in seine Malerei hineingewirkt habe. Der Tonfall Jüngers, der „Rang seiner Sprache“, habe dazu geführt, daß einige von Rauchs Bildern dieser Phase wie „Selbstläufer“ entstanden. Jüngers „phänomenales Werk“ sei ohne Beispiel. Wie auch immer man im einzelnen über ihn urteile, er sei ein „Inhaber gewaltiger Schätze“, an denen er seinen Lesern Anteil gebe.

Solche Passagen gehören sicher auf die Haben-Seite des Films. Trotzdem bleibt ein Ungenügen. Das speist sich vor allem aus der Wahrnehmung, daß es noch immer nicht möglich ist, Jünger mit der notwendigen Mischung aus Distanz und Respekt zu betrachten, die er verdient. Und daß man nicht nur nicht weitergekommen ist als bei früheren Ansätzen, sondern in vieler Hinsicht zurückgefallen hinter einen Stand, der bereits erreicht war, etwa mit der Dokumentation von Hans-Rüdiger Schwab „Anarch im Widerspruch“, die 1995 aus Anlaß von Jüngers 100. Geburtstag erschien. Wen der Vergleich zwischen diesem Film und der aktuellen Produktion interessiert, der sei auf die Netzseite www.ernst-juenger.org verwiesen, die eine Aufnahme von „Anarch im Widerspruch“ bereithält.

Die Dokumentation „In den Gräben der Geschichte. Der Schriftsteller Ernst Jünger“ ist in der Arte-Mediathek bis zum 26. Dezember abrufbar.

 www.arte.tv