© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Leichtes mit doppeltem Boden
Innere Emigration, JF-Serie Teil III: Heinrich Spoerls komödiantischer Roman „Der Maulkorb“
Günter Scholdt

In „großen Zeiten“ zu leben ist nicht nur gefährlich, sondern auch seelisch belastend. Daher empfanden viele im Dritten Reich ein kompensierendes Bedürfnis nach aufmunternder Ablenkung von den auf politische Mobilisierung zielenden Parolen und Alltagsnöten. Auch ein Quantum an befreiender Kritik war willkommen, selbst in Kreisen, wo keine fundamentale Gegnerschaft zum NS-Staat bestand. Ein Autor, der den vom Regime gewährten Spielraum zum Vergnügen seiner Leser virtuos nutzte, war Heinrich Spoerl. In Sachen Sprachwitz, Humor und kontrollierter Satire bediente seine gehobene Unterhaltung den Zeitgeschmack jener Jahre aufs beste. Und sein Publikum dankte es ihm durch treue Gefolgschaft. 

Sein 1933 erschienener Schulroman „Die Feuerzangenbowle“ erreichte, flankiert durch die 1944er-Verfilmung mit Heinz Rühmann, den Status eines Kultbuchs. Auch das gleichfalls verfilmte „Wenn wir alle Engel wären“ (1936), „Man kann ruhig darüber sprechen“ (1937) oder „Der Gasmann“ (1940) wurden massenhaft verkauft.

Besonderen Zuspruch genoß sein 1936 erschienener, mit dem zeitgenössisch assoziationsreichen Titel versehener Roman „Der Maulkorb“. Er spielt zwar wohl um 1900 in einer unbestimmten „guten alten Zeit“. Aber als keineswegs passé erwies sich der Leserwunsch, die propagierte Vollkommenheit des Staates und seiner Repräsentanten auch mal von der menschlich-komischen Seite her zu befragen beziehungsweise die Träger der Autorität sozusagen im Schlafrock oder der Unterhose zu zeigen. Kein Wunder, daß dieser Stoff auch in seiner Theaterfassung reüssierte. Und so wurde die von Spoerl verfaßte gleichnamige Komödie bereits Ende 1938 von mehr als 50 Bühnen aufgeführt. 

Im Zentrum der Handlung steht der dienstbeflissen-korrekte Staatsanwalt Herbert von Treskow, der gleichwohl in seiner Stammtischrunde einmal einen über den Durst trank. Dort hatte man empörte Reden über den Landesherrn geführt, der angeblich die Bürger (durch das Wort „Stänker“ samt „Götz von Berlichingen“-Zitat) in ihrer Meinungsfreiheit gekränkt habe. Als handfeste Steigerung der Verbalrebellion bindet der letzte Zecher Treskow auf dem Nachhauseweg dem landesherrlichen Denkmal einen Maulkorb um, was umgehend zum Politikum wird. Und ausgerechnet Treskow, der sich seiner Berauschtheit wegen anderntags an nichts mehr erinnert, wird mit der Untersuchung beauftragt. Als er schließlich der schmerzlichen Wahrheit persönlicher Verstrickung immer näher kommt, bewahrt ihn eine glückliche Fügung vor schlimmen Konsequenzen. 

Denn Rabanus, einziger Tatzeuge, liebt sein Töchterlein und nimmt sich des Problems an, um seinen präsumtiven Schwiegervater vor Schande zu bewahren. Er kungelt mit dem Oberstaatsanwalt und stiftet zwei rheinische Volkstypen zur Falschaussage an. Bätes wird fürs Gericht zum Täter erkoren. Wimm zeigt seinen Kumpel an und erhält dafür eine üppige Belohnung, die sich beide teilen. Schließlich entfällt im Prozeß noch die Anklage der „Majestätsbeleidigung“, weil Bätes die Denkmalsfigur für „eine Art Goethe“ gehalten habe. Und Dichter zu beleidigen ist allenfalls „grober Unfug“.

Der Familienrat tagt ohne Wissen des Staatsanwalts

Spoerl ist ein Meister der Kunst des (scheinbar) Leichten, die in Deutschland nur von wenigen beherrscht wird. Eine Attraktion seines Plots liegt darin, daß die Leser wie in Kleists „Zerbrochenem Krug“ schon früh den wahren Verlauf erschließen. Um so amüsierter folgen sie – nicht ohne Schadenfreude – dem skurrilen Detektivspiel des Staatsanwalts, dem nur knapp ein (wenn auch triviales) Ödipus-Schicksal erspart bleibt.

Zu den komischen Höhepunkten gehören die Gerichtsverhandlung oder ein Familienrat, den Treskows Frau Elisa-beth ohne Wissen ihres Gatten einberuft. Sie nimmt nämlich irrtümlich an, Rabanus nutze sein Wissen über Treskows nächtliche Maulkorb-Eskapade, um die Zustimmung zu einer den Eltern unerwünschten Ehe mit ihrer Tochter Trude zu erpressen. Die Verwandten erörtern die drohende Kalamität eines aus dem Amt gejagten Staatsanwalts. Dennoch gelte es, heucheln sie, sittliche Standesgrundsätze hochzuhalten.

Und nun regiert Satire pur: „Moral bleibt Moral. Die Treskows halten zusammen, und wenn sie alle vor die Hunde gehen. Einstimmig ist man dieser Ansicht. Immerhin sollte man auch die Meinung der andern achten. Es wäre angebracht, darüber abzustimmen, wegen der Wichtigkeit des Falles. Natürlich geheime Abstimmung. Frage: Soll Trude geopfert werden? Ein Kreuz bedeutet Ja. Elisabeth schneidet die Papierchen, verteilt sie, sieht geheimnisvoll gebeugte Köpfe und kritzelnde Crayons, sammelt die Zettel in einer Chinavase, schüttelt und öffnet mit zitternder Hand. / Der erste: Ja. – Allgemeine Entrüstung. / Der zweite: Ja. – Zweite Entrüstung. / Der dritte: Ja. – Dritte Entrüstung. / Weiter Ja und weiter Entrüstung. Bis zum letzten Ja und zur letzten Entrüstung.“

Weiter heißt es: „Professor Grau aus Bonn, Treskows Schwager, zerbrach sich tagelang seinen Mathematikerkopf, wieso und warum diese geheime Abstimmung nicht geheim war. Und was man in ähnlichen Fällen dagegen tun könne. Er kam dahinter: Jeder hätte drei Stimmen und drei Zettel haben müssen. Dann hätte jeder, der für Ja stimmen wollte, zwei Zettel mit Ja und einen mit Nein ausfüllen können; die Ja-Majorität wäre gesichert, und trotzdem blieben genügend Nein-Stimmen, hinter die sich jeder einzelne hätte verkriechen können. Er schrieb eine gelehrte Monographie darüber als Beitrag zur praktischen Demokratie.“

Die am Schluß der Handlung restituierte offiziöse „Moral“ läßt sich unterschiedlich beurteilen: vom eher humorlosen Standpunkt aus, wonach die auf Verständnis und Happy-End zielende Handlung eines drohenden Provinz-skandals analytisch nicht allzu tief dringe und sich der Grenzen aktueller Anspielungsfreiheit bewußt bleibe. Das stimmt insoweit, als Spoerl die Systemfrage nicht berührte, was von einem Verfasser ohnehin nicht zu erwarten war, der zuweilen sogar Verbindungen zu Parteigrößen zur Verbreitung seiner Werke nutzte.

Der Schwiegersohn läßt sich nicht einschüchtern

Dennoch unterschätzt wohl, wer die Harmlosigkeit zu sehr betont, das selbst in dieser gefälligen Darstellung steckende kritische Potential. Denn in Treskows künftigem Schwiegersohn verbirgt sich – als Identifikationsfigur für den Leser – ein ausgeprägt ziviler Gegentyp zur bloßen Amtsautorität. Als selbstbewußter Staatsbürger läßt er sich von einer Behörde, die er respektlos als „mehr oder weniger zweckmäßige Einrichtung zur Erledigung staatlicher Aufgaben“ und deren Vertreter er als „Karikaturen“ begreift, keineswegs einschüchtern. Umgehend durchschaut er die Herrschafts- wie die offiziell präsentierte Gerechtigkeitsfassade. Auch weitere kritische Nadelstiche verraten Zivilcourage – im ursprünglichen, nicht vom heutigen Sprachgebrauch pervertierten Wortsinn.

Man beachte etwa den Dialog zwischen Treskow und dem Oberstaatsanwalt, der sich vorschnell nach Verhaftungen erkundigt: „‘Vorläufig fehlt mir dazu noch die Grundlage.’ / ‘Manchmal ergibt sich die Grundlage für eine Verhaftung erst durch die Verhaftung. Sie wissen, wie schnell die einsame Zelle schweigsame Leute zum Reden bringt.’ / ‘Ich halte dieses Mittel für nicht einwandfrei.’“ Und später setzt Spoerl noch eins drauf: „‘Ei natürlich, das erprobte Rezept: Untersuchungshaft zur Erpressung von Geständnissen.’“

Auch beim Thema Denunziation gibt sich der Autor sarkastisch: „Für dreihundert Mark verrät ein anständiger Mensch nicht seinen Mitmenschen. Das müssen mindestens tausend sein, bei hochgezüchteten Charakteren sogar dreitausend.“ Oder er charakterisiert eine Vorstadtkneipe wie folgt: „Flüstern ist hier nicht üblich, nicht einmal bei hoher Politik.“

Und nicht zuletzt schließt der banale Anlaß zu dieser Justizposse ja nicht aus, einmal grundsätzlich über Vertuschungen, Vorgesetztengehabe und bloß simulierte Gerechtigkeit nachzudenken. Bedeutsamer als sachkundige Polizeiarbeit und stimmige Urteile ist offenbar immer noch die öffentliche Reputation. Und derjenige, der eine Aufklärung am meisten behinderte, wird am Ende noch befördert. Eine Pointe, die nicht nur zum Schmunzeln taugt. 






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration wird in loser Folge fortgesetzt.