© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Nostalgischer Blick auf eine vergehende Zeit
In die Welt der Heranwachsenden eingetaucht: Neele Leana Vollmar bringt den Adoleszenzroman „Auerhaus“ auf die Kinoleinwand
Dietmar Mehrens

Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ (2010) und Bov Bjergs „Auerhaus“ (2015) sind literarische Seelenverwandte. Die beiden Romane, die tief in die Welt der Heranwachsenden eintauchen und sie eine begrenzte Zeit lang in ihrem eigenen Koordinatensystem schalten und walten lassen, könnte man auch als „Fänger im Roggen“ der deutschen Provinz bezeichnen.

„Auerhaus“ liest sich aufgrund der kurzen, fast telegrammartigen Sätze sehr flüssig und ist ein klassischer Adoleszenzroman. An deutschen Schulen gibt es Lehrkräfte, die glauben, durch eine jugendnahe Sprache und Thematik Schüler zum Lesen animieren zu können. Wo Deutsch oft nur noch Zweit- und nicht Muttersprache ist, wird man mit Goethes „Werther“ schließlich nicht weit kommen. So avancierten beide Romane zu gefragten Schullektüren samt Klett-Materialien. Und deutsche Filmproduzenten sprangen auf den fahrenden Zug auf in der begründeten Hoffnung, ihr Hauptzielpublikum ins Kino zu locken. Nach Fatih Akins „Tschick“-Verfilmung (2016) startet am 5. Dezember nun das „Auerhaus“ in den Kinos. 

„Suizid, das klang nach einer Krankheit, dachte ich. Oder nach einer Medizin. Früher hatten wir es Selbstmord genannt“, schildert im Roman Ich-Erzähler Höppner den Ausgangspunkt der Handlung. Urheber des Freitodfehlversuchs ist Höppners Freund Frieder. Damit sich derlei Unbill nicht wiederholt und Frieder aus der „Klapse“ kommt, faßt Höppner den Plan, bis zum Abitur mit seinem Schulkameraden zusammen in dem leerstehenden Bauernhaus von Frieders Opa zu wohnen.

Außer Höppner und Frieder ziehen auch Höppners Freundin Vera und die von ihren Eltern vernachlässigte Cäcilia mit ein, ein verwöhntes Wohlstandskind. Vier schräge Typen bilden fortan eine WG der besonderen Art: das Auerhaus, eigentlich, nach einem Achtziger-Jahre-Poplied, „Our House“.

Da das Geld immer knapp ist, üben sich Vera und Frieder in Ladendiebstählen und führen auch Höppner und Cäcilia in die zweifelhafte Kunst ein. Mit der psychisch kranken Pauline, Frieders Bekanntschaft aus der Psychiatrie, und dem homosexuellen Harry, der – nachdem er seinen Eltern seine problematische Neigung gebeichtet hat – nicht mehr zu Hause wohnen möchte, wächst die WG auf sechs Personen an.

Spießigkeit geht ihnen auf die Nerven 

Die Handlung findet ihren ersten Höhepunkt in Frieders Attacke auf den großen Weihnachtsbaum in der Dorfmitte, Symbol jener dörflichen Spießigkeit, die der jungen Generation auf die Nerven geht. Als  Harry, der mit Rauschgift handelt und den Hühnerstall des Bauernhofs als Drogenlager mißbraucht, ins Visier der Polizei gerät, kommt die Auerhaus-Clique akut in die Bredouille. Es wird nicht die letzte Konfrontation mit den Ordnungshütern bleiben …

Lange ist es her, daß die Bundesregierung mit ihrer „Keine Macht den Drogen“-Kampagne klare Kante gegen Rauschgift zeigte. Nach der rot-grünen Machtübernahme 1998 war damit bald Schluß. Mit notorischen Drogenkonsumenten in den eigenen Reihen und Ex-Hippies als Wahlklientel war es den mitregierenden Grünen vermutlich zu heikel, die Kampagne fortzuführen.

Wer genau hinsieht, merkt, daß sich seither die Darstellung von Drogenkriminalität in Unterhaltungsmedien verändert hat. Pop-Ikone Lady Gaga sorgte 2012 für Schlagzeilen, als sie auf offener Bühne Marihuana rauchte. Auch im „Auerhaus“ werden Drogen eher verharmlost als dämonisiert.

Der Roman ist aber nicht nur Selbstbeschreibung eines dekadenten Zeitalters. Er verfügt über Witz und subtil-ironischen Humor, der sich vor allem dem herrlich nonchalanten, jugendlich-naiven Holden-Caulfield-Ton des Erzählers verdankt. Wie Salingers Jugendbuch-Klassiker „Der Fänger im Roggen“, ebenfalls Pflichtlektüre an deutschen Gymnasien, verleiht der nostalgische Blick auf die für immer vergehende Welt der Jugend- und Schulzeit mit all ihren Bindungen und Freundschaften auch Bov Bjergs Buch einen ganz besonderen Zauber. „Wir hatten immer so getan, als ob das Leben im Auerhaus schon unser richtiges Leben wäre, also ewig“, bekennt Höppner. Aber ewig währt im Leben bekanntlich nichts.