© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Weichenstellung in die Gegenwart
Die Sowjetunion in die Knie gezwungen: Der Nato-Doppelbeschluß vor vierzig Jahren und seine Folgen
Jürgen Liminski

Der Treibsand der Geschichtsschreibung verweht, ja bedeckt manche Begebenheit, mitunter auch entscheidende Weichenstellungen. So war es auch beim sogenannten Nato-Doppelbeschluß. Den hatten die Nato-Staaten am 12. Dezember 1979 gefaßt. 

Der Beschluß von Brüssel sah die Einführung von atomar bestückten Mittelstreckenraketen (Pershing II) und Tomahawk-Marschflugkörpern vor, bei gleichzeitigen Verhandlungen zwischen Nato und Warschauer Pakt zum Ziel der atomaren Abrüstung. Der Beschluß war notwendig geworden, weil Moskau mit der Stationierung von modernen SS-20- Mittelstreckenraketen sich einen strategischen Vorteil verschafft und damit die vorherrschende Strategie der „Flexible Response“, der flexiblen Antwort, Schritt für Schritt ausgehöhlt hatte. 

Labiles Gleichgewicht des atomaren Schreckens 

Denn die allgemeine Strategie der Abschreckung, das Gleichgewicht des Schreckens, von der die Flexible Response ein Teil war, funktionierte nur, wenn man die Eskalation im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung kontrollieren, also einen Schlag mit einem entsprechenden Gegenschlag beantworten konnte. In der Leiter der Abschreckung fehlte dem Westen aber seit der Kuba-Krise eine Sprosse. Washington hatte zur Beendigung der Kuba-Krise mit Moskau ausgehandelt, daß der Westen seine Atomraketen mittlerer Reichweite, die taktischen Atomwaffen, aus der Türkei abziehen würde, sofern Moskau seinerseits die russischen Atomraketen von Kuba abziehe. So geschah es. 

Aber Moskau bastelte in den siebziger Jahren konkret an modernen Raketen mit mittlerer Reichweite und Mehrfachsprengköpfen, die Westeuropa erreichen und somit die Bundesrepublik Deutschland und andere Länder unter großen politischen Druck setzen konnten. Der Totalvernichtung setzte die Sowjetunion eine Teilvernichtung entgegen – in der Hoffnung, daß Amerika nicht wegen Europa seine eigene Vernichtung riskieren würde. Die Abschreckung war teilbar, das Gleichgewicht des Schreckens, auf dem die Sicherheitsstatik global und vor allem in Europa fußte, war labil geworden und drohte zu kippen. 

Es gehört zum historischen Verdienst des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (SPD), daß er diese Lücke, entstanden durch die fehlende Sprosse in der Abschreckungsleiter, im Rahmen der Nato thematisierte und die Führungsmacht Amerika überzeugte, sie zu schließen. Dieser Beschluß fiel im Dezember vor vierzig Jahren, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war damals noch Jimmy Carter. Auch bei Ronald Reagan, der ein knappes Jahr später gewählt wurde und 1981 das Amt antrat, fand Schmidt ein offenes Ohr. In seiner eigenen Partei, der SPD, allerdings nicht. Noch weniger bei den Grünen und der sogenannten Friedensbewegung, von der man heute weiß, daß sie weitgehend aus Ost-Berlin und Moskau finanziert und gesteuert war. Angstkampagnen fluteten die Republik. Aus der damals massiv generierten Atomangst resultierte sicher auch die bei den Grünen nahezu genetisch vorhandene Angst vor der zivilen Nutzung der Nuklearenergie. 

Der Rückhalt Schmidts in der eigenen Partei zerbröselte, der Slogan „lieber rot als tot“ war so stark wie die Annahme, daß es immer zwei Staaten auf deutschem Boden geben würde, die linksliberalen Medien schossen aus allen Rohren gegen den Doppelbeschluß und malten Menetekel von Krieg und atomarer Verwüstung an die Wand der europäischen Wohlstandsgelage. Die Schreckensbilder verfehlten ihre Wirkung nicht. Es kam zur bis dato größten Demonstration in Deutschland. In der Bonner Rheinaue versammelten sich mehr als 300.000 Menschen, um die Regierung zum Einlenken zu bewegen, unter ihnen auch bekannte SPD-Politiker. Schmidt vertraute, wie Akten des Auswärtigen Amtes heute nachweisen, einem ausländischen Regierungschef an, wenn die öffentlichen Emotionen weiter so hochkochten, müsse er damit rechnen, „unter Umständen erschossen zu werden“. Er sei bereit, sich für den Nato-Doppelbeschluß „sogar physisch umbringen zu lassen“. Man kann es nur als Ironie der Geschichte bezeichnen, daß Schmidt später ausgerechnet bei der Zeit Mitherausgeber wurde, die am schärfsten gegen den Doppelbeschluß feuerte – und übrigens bis zuletzt die Wiedervereinigung für unmöglich hielt. 

Schmidt hielt Sowjetunion für „Obervolta mit Raketen“

Am 22. November 1983, Schmidt war schon ein Jahr nicht mehr im Amt – Kohl hatte ihn durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gestürzt und im März in vorgezogenen Neuwahlen mit 48,8 Prozent das zweithöchste Ergebnis eingefahren, das die Union je erzielt hat –, stimmte der Bundestag der Realisierung des Doppelbeschlusses zu. Vorausgegangen war allerdings ein internes Ringen. Kohl hatte US-Präsident Reagan geschrieben, er fürchte „Aufruhr“ („upset“) in der Bevölkerung, und angeregt, die Realisierung zu verschieben. 

Davon hatte Cay Graf Brockdorff, der Nato-Korrespondent der Welt, damals noch eine liberal-konservative Zeitung, Wind bekommen und den Fraktionschef der Union, Alfred Dregger, informiert. Der ließ sich unverzüglich zu einer Bundespressekonferenz einladen, auf der er den Willen der Union bekräftigte, hic et nunc die Pershing II in Deutschland zu stationieren. Kohl stand vor vollendeten Tatsachen. Die baldige Stationierung war damit unausweichlich.  

Dreggers Pressekonferenz gehört zu jenen historischen Weichenstellungen, die gelegentlich vom Treibsand der Geschichtsschreibung verweht werden. Ab hier aber fuhr der Zug Sowjetunion in Richtung Endstation. Denn das Wettrüsten, das nun zwischen Ost und West einsetzte, konnten die Sowjets nicht gewinnen, trotz des großen Geheuls der Grünen und anderer (gelenkter) Friedensbewegter. Schmidt hatte mit seiner Kurzdiagnose von der Sowjetunion („Obervolta mit Raketen“) recht behalten. Das System der sozialistischen Planwirtschaft konnte mit dem freiheitlichen System des Westens nicht mithalten, was nicht nur eine Frage der Ressourcen, sondern mehr noch der Motivation, des Eigentums und der Innovationskraft, die freiheitlichen Systemen eigen ist. 

Der neue KPdSU-Generalsekretär sah 1985 wohl viele Defizite des Sowjetsystems, aber Perestroika und Glasnost, Reformwille und Transparenz, reichten nicht aus, die grundsätzlichen Defizite zu beheben. Immerhin kam es zu Abrüstungsverhandlungen, bei denen Reagan und Gorbatschow nicht nur Obergrenzen für Atomwaffen festlegten, sondern auch tatsächliche Reduzierungen. In der isländischen Hauptstadt Reykjavík einigte man sich 1986 sogar darauf, die gerade erst stationierten sowjetischen und US-Mittelstreckensysteme wieder abzubauen. Als es soweit war, war die Lage durch neue Technologien überholt und die Sowjetunion stand vor der Auflösung. 

Man kann heute ohne Übertreibung sagen, daß der Doppelbeschluß mit dazu beigetragen hat, das Sowjetsystem in die Knie zu zwingen und den geteilten Kontinent wieder zu vereinen. Dieser innere Zusammenhang kam beim Besuch Reagans in Berlin zum Ausdruck, als der US-Präsident seinen Verhandlungspartner Gorbatschow aufforderte, die Mauer niederzureißen und der Freiheit das Tor zu öffnen. Die Sehnsucht nach Freiheit entfaltet ihre innewohnende Kraft, wenn der Griff des Totalitarismus sich lockert oder erlahmt. Aber ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit.