© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Die Leuchte des Nordens
Kulturhistorische Impressionen zum 600jährigen Jubiläum der Universität Rostock
Dirk Glaser

Dreißig Jahre nach dem Untergang der DDR gilt immer noch das geflügelte Wort: „Es war längst nicht alles schlecht …“ Zum Beispiel viele Sektionen des Bildungswesens im SED-Staat. Mit wachsendem Abstand ist beispielsweise zu erkennen, daß die geisteswissenschaftliche Forschung und Lehre unter der dicken Kruste marxistisch-leninistischer Ideologie vielleicht nicht „Weltniveau“ erreichte, aber in manchen Disziplinen bundesdeutschen Hochschulen voraus war. Etwa in der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, dem Rechenzentrum neuzeitlicher Geistes- und Ideengeschichte.

Ganz offensichtlich trug zu diesem Vorsprung auch die Laune des Kalenders bei, denn alle bedeutenden mitteldeutschen Universitätsjubiläen folgten in den 1950ern und 1960ern dicht aufeinander: Halle (1952), Greifswald (1956), Jena (1957), Leipzig (1959), Berlin (1961), und zum Abschluß des Reigens feierte die Alma mater der Hansestadt Rostock 1969 ihr 550jähriges Bestehen.

Fokus auf studentische Kulturgeschichte

Jedesmal lautete die „Planvorgabe“, nicht zuletzt um der kulturpolitischen Außenwirkung willen, alle Kräfte zu mobilisieren, um eine kanonische historisch-materialistische Gesamtdarstellung der jeweiligen Universitätsgeschichte vorzulegen. Was mit mehrbändigen Werken, überwiegend im Atlasformat, auch überzeugend gelang. Solche im „Kollektiv“ von den Kärrnern des akademischen Mittelbaus bewältigten Projekte zogen tüchtigen Nachwuchs heran für die bis 1989 die BRD-Kollegen überflügelnde Wissenschaftshistoriographie der DDR. Zum Vergleich: Die Universität Tübingen begnügte sich noch 1977 mangels Fachpersonals damit, ihre 500jährige Geschichte als Gelehrtenrepublik vom Westentaschen-Lessing Walter Jens als Märchen vom Kampf liberaldemokratischer Lichtfreunde gegen die reaktionären Verfechter der ewig dunklen deutschen Nacht erzählen zu lassen.

Wer heute die strengen DDR-Maßstäbe der zweibändigen Rostocker Festschrift von 1969 anwendet auf die von Karl-Otto Edel pünktlich zu dem in diesem Herbst gefeierten 600jährigen Jubiläum der Alma Mater Rostochiensis veröffentlichten „Streifzüge“ durch die mecklenburgische Hochschulgeschichte, der dürfte freilich etwas enttäuscht sein. Denn nicht wie üblich eine Geschichte der Wissenschaften und ihrer Rostocker Vertreter, von der Augenheilkunde bis zur Zoologie, von der Botanik und Germanistik bis zum Staatsrecht und zur Theologie, erwartet den Leser, sondern eine davon strikt getrennte Kulturgeschichte der Universität. 

Ausführlich widmet sich der Verfasser daher ihren Insignien, Fahnen, Siegeln, den Petschaften und den Rektorketten, den professoralen Ornaten, studentischen Stammbüchern und historischen Institutsgebäuden, dem Intermezzo (1760–1789) einer gescheiterten herzoglichen Konkurrenzgründung im nahen Bützow, den akademischen Graden und dem Wandel ihrer Reputation, Plagiatsskandalen, Kriminalfällen, dem Frauenstudium und der akademischen Gerichtsbarkeit. 

Womit der Bogen geschlagen ist zu einem Schwerpunktthema, das fast ein Drittel des starken Bandes beansprucht: dem vielfach zwar pittoresk und fidel wirkenden, aber, wie in zahllosen Untersuchungen über studentische Verbindungen des 19. und 20. Jahrhunderts dokumentiert, denn doch geistig recht anspruchslosen Treiben angehender Pastoren, Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte und Oberlehrer. Auch was Edel in einschlägigen Kapiteln über „Tanzen und andere Lustbarkeiten“ und andere „Studenten kurtzweil“ sowie den, als strafende Antwort auf Raufhändel und sonstiges alkoholbedingtes Fehlverhalten, unvermeidbaren „Karzer“ aus Rostock mitzuteilen weiß, setzt dazu keine neuen Akzente. 

Schmerzlich vermißt hingegen werden weitere Aufschlüsselungen zu regionaler wie sozialer Herkunft und zum Bildungsgang der Studenten, wie sie die Festschrift von 1969 bietet. Zu bemängeln ist zudem, daß das verheißungsvoll betitelte, resümierende Einsichten versprechende Kapitel über „Studentisches Selbstverständnis und Handeln im Wandel der Zeiten“ bei weitem zu impressionistisch ausfällt. So enden etwa die Absätze über die studentische Teilnahme an den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 und das burschenschaftliche Autodafé auf der Wartburg (1817) irritierend abrupt, und es geht weiter mit Notizen zur „Gestaltung der vorlesungsfreien Zeit der Schiffbaustudenten im Jahre 1961“.

Zu dieser Zeit war der spätere Professor Dr.-Ing. habil. Karl-Otto Edel selbst Student in Rostock, immatrikuliert 1959 an der Schiffbautechnischen Fakultät. Diese Institution war ein hochschulpolitisches Novum. Die Zusammenlegung von Technischen Hochschulen und Universitäten stand zwar schon zu Beginn der Weimarer Republik auf der Reformagenda des preußischen Kultusministeriums. Erstmals verwirklicht wurde sie jedoch mit der im Mai 1951 feierlich eröffneten Technischen Fakultät für Schiffbau, um in der Werft- und Hafenstadt Rostock mit praxisnaher Wissenschaft die „ökonomischen Grundlagen des sozialistischen Gesellschaftssystems“ zu festigen. 

Die Geschichte dieser jungen Fakultät bildet verständlicherweise einen weiteren, autobiographisch grundierten Schwerpunkt des hier wie in allen anderen Kapiteln mit bestechend schönen Illustrationen und Fotos üppig ausgestatteten Bandes, der mit einer ebenso fundierten wie streckenweise vernichtenden Kritik am zwanzig Jahre alten „Bologna-Prozeß“ schließt.

Karl-Otto Edel: Alma Mater Rostochiensis. Streifzüge durch 6 Jahrhunderte Hochschulgeschichte. IFB Verlag Deutsche Sprache, Paderborn 2019, gebunden, 508 Seiten, Abb., 30 Euro