© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Platon als Wegbereiter Adolf Hitlers
Der „Dritte Humanismus“ und die Nationalerziehung in der Weimarer Republik im Visier
Uwe Lamprecht

Locker numeriert, meint der klein geschriebene erste Humanismus eine im Deutschland des 16. Jahrhunderts vornehmlich von Philologen ins Werk gesetzte Vergegenwärtigung der Antike. Für den Neuhumanismus des Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt, der das höhere preußische Schulwesen und die Universitäten des 19. Jahrhunderts prägte, ist dann die Nummer zwei vergeben worden. Verglichen mit diesen beiden Vorgängern strahlte ausgerechnet der groß geschriebene „Dritte Humanismus“ so matt wie eine LED-Leuchte und war von kurzer bildungspolitischer Wirkungsdauer – begrenzt auf das demokratische Zwischenkriegsintermezzo der Weimarer Republik.

In ideenhistorischer Rückschau kommt dieser Versuch, in der Orientierungskrise nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die deutsche Kulturnation durch Rückbesinnung zuvörderst auf die griechische Antike zu regenerieren, notorisch schlecht weg. Was daran liegt, daß die vom Kreis Stefan Georges und von akademisch einflußreichen Altertumswissenschaftlern wie dem Berliner Gräzisten Werner Jaeger (1888–1961) propagierte kulturelle Erneuerung im Zeichen des griechischen Philosophen Platon (427–347 v. Chr.) stand. Dessen in „Politeia“ und „Nomoi“ entworfene staatliche Idealordnung ist spätestens seit Karl R. Poppers im neuseeländischen Exil entstandener Kampfschrift über die „Feinde der offenen Gesellschaft“ (1945) als deren Erzvater mit dem Totalitarismus-Stigma behaftet. Was wiederum die mittlerweile in der Forschung als „Narrativ“ fest verankerte Mär begünstigte, die Fixierung auf „Platon de[n] Erzieher“ (Julius Stenzel, 1928) und den politischen Führer habe mitgeholfen, der NS-Diktatur ideologisch den roten Teppich auszurollen.

Kein unüberbrückbarer Riß zur platonischen Aristokratie

Das ist die übliche, wahrlich vom „Nazi-Notstand“, wie er in den Kulturwissenschaften heutzutage herrscht, zeugende Simplifizierung, die Richard Pohle (Halle) vorsichtig revidieren möchte (Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, 25/2019). Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat sich mit seiner 2017 publizierten – leider ärgerliche Redundanzen mit Barbara Stiewes dem Dritten Humanismus gewidmeter Monographie (2011) aufweisenden – Dissertation über „Platonrenaissance und Antimodernismus in Deutschland (1890–1933)“ als Kenner der Materie empfohlen. Wie es im Untertitel dieser Arbeit indes anklingt, erweist auch Pohle der herrschenden Meinung untertänig Referenz, wonach die nationalpädagogische Platon-Rezeption in den breiten, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts springflutartig anschwellenden, in die Herrschaft Adolf Hitlers mündenden Strom jener „rechten“ Kultur- und Zivilisationskritik gehöre, die den Auszug aus der modernen, die Masse der Menschen gnadenlos vernutzenden kapitalistisch-industriellen Welt predigte.

Trotzdem ist für Pohle der Dritte Humanismus nicht mit der Fundamentalopposition gegen dieses „Liberale System“ (Ernst Nolte) gleichzusetzen. Der „platonische Aufbruch“ sei nicht „schlechthin antidemokratisch“ gewesen. Man könne in dieser breitgefächerten Formation durchaus „republikanische und demokratische Positionen“ ausmachen, „die eine vom Paradigma der ‘Selbstfaschisierung’ oder Gleichschaltung geleitete Forschung bisher weitgehend übersehen hat“. Darum konzentriert sich Pohle darauf, jene neuhumanistischen Autoren näher zu beleuchten, deren Schriften „gerade nicht in solcher Kulturkritik und antimodernem Ressentiment“ aufgingen. Und die daher nicht automatisch die geistigen Waffen für den nationalsozialistischen „Deutschen Aufstand gegen den Westen“ (Kurt Hancke, 1940) schmiedeten.

Gegenentwurf zur Weimarer Demokratie

So habe sich der Platon-Exeget Paul Natorp (1854–1924), neben Hermann Cohen (1842–1918) das zweite Haupt der „Marburger Schule“ des Neukantianismus, nicht nur schulpolitisch als „philosophierender Demokrat“ profiliert. Im hohen Alter sympathisierte er sogar mit dem rätesozialistischen Gesellschaftsmodell, das sich, Platon von linksaußen auffassend, bei ihm allerdings als „utopisch-expressionistischer Gegenentwurf zur parlamentarischen Demokratie Weimars“ entpuppte. 

Da gebe ein akademischer Außenseiter, der 1942 in Auschwitz ermordete Berliner Neukantianer Kurt Sternberg, als demokratischer Platon-Ausleger schon mehr her. Wobei dessen Anpassungen Platons an den Weimarer Zeitgeist natürlich nur als Interpretationen mit der Brechstange glückten. Zu den „modernen Gedanken“, die Sternberg in dessen Werke verpflanzte, um sie als antikes Eigengewächs auszugeben, zählte etwa die sozialdemokratische Idee des gerechten Ausgleichs zwischen Arm und Reich, ohne die der Philosoph, quasi ein früher Genosse August Bebels, seinen auf Gemeinsinn ruhenden einheitlichen Staat ja nicht hätte denken können. 

Platon ist für Sternberg überdies der Erfinder der Gewaltenteilung, ein Vorläufer Lockes und Montesquieus. Von dort ist es dann nicht mehr weit, um die berühmte Forderung nach der dem Staatswesen allein frommenden Philosophenherrschaft etwas zu „modernisieren“. Sei sie doch seit 1918 so zu verstehen, daß die Staatsverwaltung in den Händen „wissenschaftlich Gebildeter“ liegen müsse. Und diese „Herrschaft der Besten“ werde von „Vertrauensleuten des Volkes“ ausgeübt, womit bewiesen sei, daß Platon eine repräsentative Demokratie befürwortet habe. Es klaffe also „kein unüberbrückbarer Riß“ zwischen neuzeitlicher Demokratie und platonischer Aristokratie der intellektuell und moralisch Tüchtigen.

Antidemokratisches und elitäres Paradigma dominant

Freilich, so gesteht Pohle zu, hätten der späte Natorp und Sternberg nur Ränder des Weimarer Platon-Diskurses besiedelt. Anders verhalte es sich aber mit einem Schwergewicht wie dem Heidelberger Ordinarius Ernst Hoffmann (1880–1952), der Platon für sein individualistisches und freiheitliches Bildungsideal reklamierte, ihn also demokratisch rezipiert habe. Reüssieren konnte er damit sowenig wie Werner Jaeger mit anfänglich gehegten Vorstellun-

gen zur sozialen, vom platonischen Geist getragenen Öffnung des Gymnasiums oder der Notwendigkeit „demokratischer Führerauslese“. Statt dessen sei das „elitäre und antidemokratische Paradigma der Platon-Forschung“ letztlich dann doch von „durchschlagender Diskursmächtigkeit“ gewesen. Natorp, Sternberg, Hoffmann und andere Verlierer im Kampf um Deutungshoheit in Schule und Universität stünden jedoch dafür, daß die von Neomarxisten gern behauptete „Selbstfaschisierung der Altphilologie“ unter dem Banner des „Dichter-Herrschers“ wohl „sehr viel differenzierter zu betrachten ist“, als es der gegenwärtige Tunnelblick auf die „Plato-Mode“ (Friedrich Gundolf) vor 1933 nahelege.