© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/19 / 06. Dezember 2019

Unpolitische Konsensideale
Schülerselbstverwaltung in der Weimarer Republik
Uwe Lamprecht

Am 27. November 1918 erschien im Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen ein Aufruf an die Schüler und Schülerinnen der höheren Schulen zwischen Memel und Aachen. Unterzeichnet war er von Konrad Haenisch (SPD), der während der „Novemberevolution“ das Ruder im preußischen Kultusministerium übernommen hatte. 

Zum rechten Flügel gehörend, geprägt von den „Ideen von 1914“ und der dem Klassenkampf Lebewohl sagenden SPD-Politik des „Burgfriedens“, wollte Haenisch die Gymnasien auf die Formung  der „Volksgemeinschaft“ verpflichten. Die sollte aber nicht durch Unterordnung, wie sie in der Schule des „Obrigkeitsstaates“ geherrscht habe, entstehen, sondern durch ein „neues Verhältnis der Kameradschaft“ zwischen Lehrern und Schülern, um der jungen Generation, die nicht länger als „unreife und unmündige Masse“ zu behandeln sei, in einer Atmosphäre des Vertrauens Werte der Demokratie zu vermitteln. 

Schulpolitisch so revolutionär wie der Aufruf anmutet, war er mitnichten. Für Anne Otto (Universität Halle), die sich mit Haenischs Konzepten für eine Schülerselbstverwaltung befaßt (Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, 25/2019), finden sich darin weit vor 1914 formulierte Erziehungsvorstellungen von Reformpädagogik und Jugendbewegung. Deren Mitte bildete die „vollendete Gemeinschaft“, wie sie auch Haenisch vorschwebte, der im altdeutschen genossenschaftlichen Geist sozialisiert wurde, den gerade die SPD vitalisiert hatte. Diese letztlich unpolitische, weil überparteiliche, nur in der Extremlage eines Krieges kurzzeitig erzeugbare nationale Einheit ist im Alltag einer pluralistischen Industriegesellschaft jedoch nicht zu konservieren.

Eine Erfahrung, die auch Haenisch mit seinem Versuch machte, mit der Einrichtung von Schülerselbstverwaltungen „demokratische Grundprinzipien und parlamentarische Formen“ an Gymnasien einüben zu lassen. Was für Otto an der unrealistischen, links wie rechts gehegten Erwartung scheiterte, die das demokratisch transformierte Ideal der Volksgemeinschaft weckte. Weltanschauliche wie soziale Spaltungen moderner Gesellschaften könnten pädagogisch genausowenig überwunden werden wie politisch. Schon Schüler hätten daher seit 1919 lernen müssen, daß ertragen und vermitteln von Gegensätzen  nicht die Inszenierung harmonischer Gemeinschaft Aufgabe demokratischer Politik sei.