© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

Nach der Orgie der Kater
Finanzcrash oder Abkühlungstendenzen: Warner unken, der Kollaps des Geldsystems komme unweigerlich. Die Zeichen dafür mehren sich
Paul Rosen

Wenigstens die Krise hat noch Konjunktur. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) meint, „die fetten Jahre sind vorbei“. Bekannte Krisen-Symphoniker wie das Autoren-Duo Marc Friedrich und Matthias Weik stürmen die Bestsellerlisten. Analysten von Bloomberg warnen: „Im Herzen der weltweiten Finanzmärkte reift ein mehrere Billionen Dollar großes Schwarzes Loch heran. Negativ verzinste Anleihen breiten sich im Universum aus, zerstören potentielle Renditen für Anleger und stellen das System auf den Kopf.“ Aber ist es wirklich so schlimm? Werden wir vom Schwarzen Finanzloch verschlungen? Der Versuch einer Bestandsaufnahme.

Das „Schwarze Loch“ läßt sich quantifizieren: Die Schulden aller Staaten, Unternehmen und Privatleute auf diesem Planeten haben sich seit der Jahrtausendwende mehr als verdreifacht auf nunmehr rund 250 Billionen Dollar. Drei Jahre müßten alle Menschen auf der Erde arbeiten, um diesen Schuldenberg abzutragen. Dabei dürften sie nichts essen oder trinken oder kaufen – was klarmachen dürfte, daß es mit dem Abbau der Verbindlichkeiten nichts werden wird.

Im Gegenteil, die Schuldenorgie geht munter weiter. Denn Zinsen als Preis des Geldes gibt es kaum noch. Ein Viertel der weltweiten Schulden hat einen sogenannten Negativzins, das heißt, die Gläubiger zahlen dem Schuldner dafür, daß sie ihm Geld leihen dürfen. Wer zum Beispiel dem deutschen Staat 1.000 Euro leiht, bekommt nach zehn Jahren 998 Euro zurück. Das zeigt: Das System ist durchgedreht.

Ein Krankheitssymptom war kürzlich in der Augsburger Allgemeinen zu lesen: „Anleger stürzen sich auf Papiere aus Griechenland“. Dabei ist das Land faktisch pleite und wird nur durch europäische Finanzspritzen am Leben gehalten.

Damit ist in Europa (und zum Teil auch in den USA) das Problem erklärt: Die eigentlich unabhängigen und nur der Geldstabilität verpflichteten Zentralbanken haben sich zu Helfershelfern von Politikern gemacht, die unisono nicht mit Geld umgehen und die Zinsen für die von ihnen angehäuften Schuldenberge nicht mehr zahlen können. Der kürzlich aus dem Amt geschiedene Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, half den Politikern, indem er mit dem Aufkauf von Anleihen begann. Inzwischen hat die EZB die unvorstellbare Summe von 2,6 Billionen Euro für Anleihen ausgegeben. Das entspricht den Ausgaben des Bundes in sieben Jahren. Fast ein Drittel der deutschen Staatsschulden hält die EZB.

Unrentable Firmen bezahlen Schulden mit Schulden

Die deutsche Reichsbank hatte es in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ungleich schwerer, als sie genau das tat, was Draghi und seine Nachfolgerin Christine Lagarde heute machen: Die Reichsbank mußte Geldscheine drucken lassen ohne Ende, bis ein Brot eine Billion Mark oder mehr kostete, weil der wachsenden Geldmenge keine reale Wirtschaftsleistung gegenüberstand. Draghi und Lagarde brauchen kein Papier mehr. Es reicht ein Knopfdruck, und schon haben Finanzminister und Unternehmen frisches Geld. Der Protest ehemaliger Notenbanker verhallte ungehört. Die deutsche Vertreterin im EZB-Rat, Sabine Lautenschläger, trat zurück, weil sie die Geld-Flutung nicht mehr mitmachen wollte.

Billiges Geld und fehlender Währungswettbewerb in Europa durch den Einheits-Euro wirken wie Drogen: Unternehmen, die längst pleite wären, leihen sich Geld zum Nulltarif, zahlen Schulden mit neuen Schulden (wie die Staaten). Die Angestellten bekommen gute Gehälter, so daß sogar ein Land wie Italien, dessen Wirtschaft seit der letzten Finanzkrise 2008/09 nicht mehr auf die Beine gekommen ist, heute verbreiteten Wohlstand kennt. Die Folgen sieht man in den angesagten Berliner Clubs, wo angereiste Besucher zumeist italienisch sprechen. Nicht nur dort ist die Euro-Party in vollem Gange.

Wie jede Party endet auch diese einmal. Für Friedrich und Weik steht der „größte Crash aller Zeiten“ bevor. Vermögen würden vernichtet, Sparguthaben entwertet und der Euro in den Abgrund gerissen. Markus Krall, Chef der Goldhandelsfirma Degussa, ist jemand, der gut von Krisenberichten lebt. Insgesamt sollen die Deutschen 8.900 Tonnen Gold in Form von Barren, Münzen oder Schmuck besitzen, und es wird weiter gekauft wie verrückt. Für Leute wie Krall ist Krisenstimmung ein Bombengeschäft, der stark gestiegene Goldpreis ist jedoch auch ein Fieberthermometer für das kranke System.

Was Krall sagt, ist aber nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen. Die Banken im Euroland hätten eine Billion Euro an Krediten in den Büchern, die längst ausgefallen seien: „Wäre das Bankensystem im Euroland ein Atomreaktor, würden wir ihn Tschernobyl nennen“, sagt Krall.

Politiker im Bundestag lachten Krall kürzlich in einer Anhörung aus, als er dort mit Verve seine Thesen vortrug. Aber in Wirklichkeit gehen sie daran, wie in Tschernobyl eine Schutzhülle für das explosive Bankensystem zu bauen. Europas Banken sind Teil der Zombie-Wirtschaft. Wer das nicht glauben will, soll sich nur den Aktienkurs der einst mächtigen Deutschen Bank ansehen: In zehn Jahren fiel der Kurs um mehr als 90 Prozent.

Jetzt soll schnell eine europäische Einlagensicherung her, gegen die sich die Bundesregierung lange wehrte, weil sie die gut gefüllten Risiko-Rücklagentöpfe der deutschen Institute nicht für italienische oder griechische Banken opfern wollte. Genau dies wird geschehen. Die deutschen Sparer, die durch den Nullzins schon rund 400 Milliarden Euro verloren haben, bekommen nun nur noch einen europäisch verwässerten Einlagenschutz.

Mit Hyperinflation haben die Deutschen Erfahrungen

Es gibt viele Anzeichen, daß wir in eine Krise hineinschlittern: Die Wirtschaft läuft schlecht, echtes Wachstum gibt es schon lange nicht mehr. Jetzt kommen zuhauf Entlassungen. Zuletzt kündigte Audi an, sich von 9.000 Mitarbeitern trennen zu wollen. Höchste Steuern (das fiel sogar Kanzlerin Merkel auf), Überregulierung bis hin zur Bon-Pflicht beim Brötchenverkauf, zu hohe Energiekosten, eine vergammelnde Infrastruktur, ein miserables Bildungssystem und schlechtes Internet haben aus dem einstigen Wirtschaftswunderland Deutschland längst einen Krisenfall werden lassen. Den meisten Menschen geht es noch gut; aber das ganze System lebt von der Substanz, die die Wiederaufbau-Generation der fünfziger und sechziger Jahre hinterlassen hat. Es ist wie auf einer Party: Irgendwann ist der Kühlschrank leer, und dann gehen alle.

Krisenanzeichen in Deutschland sind sicher auch die aus dem Ruder laufenden Mietkosten und Immobilienpreise sowie der miserable Zustand von Banken, Lebensversicherungen und großer Teile der Industrie. International kommt hinzu: Uneinigkeit in Europa, der Brexit, die Handelsprobleme und die kriselnde Lage in China, die niemand realistisch beurteilen kann. Die frühere britische Kronkolonie Hongkong, über die die meisten Warenströme von und nach China laufen, ist ein Pulverfaß, auf dem niemand sitzen mag.

Zündschnüre zu den Pulverfässern auf dem Planeten gibt es zuhauf. Irgendwann wird eine Lunte angezündet werden. Ein kleiner Auslöser, zum Beispiel die Pleite eines angesagten Unternehmens wie Tesla (hat noch nie einen Dollar selbst verdient), könnte reichen, um die grüne Blase platzen zu lassen und einen weltweiten Dominoeffekt in Gang zu setzen, der erst die Börsenkurse und dann die Banken zusammenbrechen lassen wird. Die Zinsen werden steigen, Zombie-Unternehmen gehen sofort in Konkurs, Häuslebauer können Hypotheken nicht mehr bedienen, weil sie arbeitslos geworden sind (letzteres ist ein Szenario der Bundesbank). Die EZB versucht mit frischem Geld gegenzusteuern, kann aber nichts mehr bewirken. Die Inflation trabt immer schneller.

Für Beruhigungspillendreher wie den deutschen Journalisten Gabor Steingart zeigt die Weltwirtschaft nur „Abkühlungstendenzen“ und eine neue Realität mit Vollbeschäftigung und offenbar immer weiter steigenden Aktienkursen. Doch mehrere tausend Jahre Geldgeschichte lassen sich nicht einfach in die Spree kippen. Den Münzwert zu reduzieren oder massenhaft Geldscheine zu drucken endete immer im Zusammenbruch – doch wann der kommen wird, weiß man nicht. Vielleicht gelingt es der Politik, noch das eine oder andere Jahr Galgenfrist herauszuschinden.

Die Deutschen haben Erfahrungen mit den ganz großen Crash-Situationen: 1923 verloren sie in der Hyperinflation alles, 1945 nach der Niederlage ebenfalls (und mußten im Westen dem Staat noch eine Hypothekengewinnabgabe zahlen). Sie werden auch aus dem nächsten Crash wieder herauskommen.