© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

Gefangen zwischen Weckruf und Streiklähmung
Frankreich: Ein Land im Zeichen der Renten-Unruhen / Macrons Nato-Schlagzeilen lassen aufhorchen
Jürgen Liminski

Glücklich, wer Paris erreicht. Noch glücklicher, wer Paris entkommt. Seit einer Woche wird gestreikt. Nur jeder zehnte Zug fährt. Zwar halten sich mit jedem fünften Flug die Annullierungen an den Flughäfen in Grenzen, aber wer in Charles de Gaulle und Orly landet, muß erst mal in die Stadt kommen. Die Straßen sind verstopft, die Staus summieren sich pro Tag auf Gesamtlängen von 300 Kilometern. Das Weihnachtsgeschäft droht einzubrechen, wie vor einem Jahr. Damals demonstrierten die Gelbwesten, dieses Jahr sind es Ärzte, Anwälte, Lehrer, das Krankenhauspersonal, die Feuerwehrleute, die Landwirte – rund 800.000 gingen vor einer Woche auf die Straße, doppelt so viele wie erwartet.

Macron hat letzlich keine andere Wahl

Der Grund, außer der üblichen sozialen Unruhe im Herbst, ist die Rentenreform. Sie treibt immer Hunderttausende auf die Straße. Bei Sarkozy, der 2010 zuletzt einen ernsthaften Versuch zur Rentenreform wagte, war es eine Million. Er hielt durch und erhöhte immerhin das offizielle Renteneinstiegsalter von 60 auf 62. Fünfzehn Jahre zuvor war die Regierung Alain Juppé an einer Rentenreform gescheitert. Juppés Zögling, der heutige Premier Edouard Philippe, kann sich daran erinnern. Er hat die Veröffentlichung des eigentlich schon fertigen Rentenkonzepts erst einmal verzögert. 

Man muß der Regierung Macron/Philippe zugute halten, daß sie es wagt. Andererseits hat sie auch keine andere Wahl. Zunächst aus demographischen Gründen: Vor vierzig Jahren gab es in Frankreich trotz eines niedrigeren Rentenalters gerade mal fünf Millionen Rentner, heute sind es fünfzehn Millionen, und die Bevölkerungszahl ist kaum gestiegen, dafür allerdings die Lebenszeit. Dann aus Kostengründen: Das französische Rentensystem gehört zu den großzügigsten der Welt und ohne Reform wird es das Sozialsystem lähmen oder gar ersticken. Schließlich die politischen Gründe: Macron trat als Reformer an und versprach, noch während seines Mandats, also bis 2022, das Rentensystem grundlegend zu reformieren. Das heißt, auch die 42 Sonderregelungen ins Lot des Allgemeinwohls zu bringen. Lokführer können mit 55, manche Lehrer noch früher in Rente gehen. Ein allgemeines Punktesystem soll es nun richten, und an den Stellschrauben Renteneinstiegsalter, Sonderregelungen und Zahl der Beitragspflichtjahre wird nun heftig hantiert. 

Macron ist sich der Bedeutung dieser größten Rentenreform seit 1945 wohl bewußt – auch für seine eigene politische Zukunft. Er hat vor der Veröffentlichung den angekündigten Streik abwarten wollen, um das Konzept, das seit dem Sommer vorliegt, anzupassen. Auch versuchte er im Vorfeld, durch allerlei Aktivitäten Schlagzeilen zu machen und so der Streikbewegung Wind aus den Segeln zu nehmen. 

In diesem Zusammenhang ist auch sein Interview im Economist zu sehen, in dem er vom „Hirntod“ der Nato sprach. Doch auf dem Nato-Gipfel in London relativierte Macron die Todesdiagnose zum Scheintod und sprach von einem „Wake-up-call“, einem Weckruf. Sein Außenminister Jean-Yves le Drian reiste nach Prag, um ebenfalls besänftigende Parolen auszugeben. Denn vor allem in Osteuropa sieht man mit Sorge das gleichzeitig wachsende Interesse Frankreichs an Rußland. 

Unabhängig von innenpolitischen Motiven macht Macrons Weckruf auf zwei Tatsachen aufmerksam. Erstens, die pazifische Option Amerikas: Seit den achtziger Jahren beschäftigen sich die Strategen in Washington mit dieser Option. Mit dem militärischen und wirtschaftlichen Erstarken Chinas ist sie zu einer Rivalität und, mehr noch, zu einer Bedrohung geworden. Das bindet Kräfte, die auch für die USA nicht endlos sind und letztlich Europa fehlen. 

Paris wähnt sich mit Moskau auf Augenhöhe

Der Ärger in Washington über die sicherheitspolitische Trittbrettfahrerei vor allem der Deutschen, die über die Jahrzehnte ihren Wohlstand fröhlich vermehrten und an der Bundeswehr eisern sparten, ist vor diesem Hintergrund verständlich. Die Sorgen der Franzosen, die wachsende Unsicherheit allein nicht auffangen zu können, sind es auch. Und es hat auch funktioniert: Trump ist momentan wieder großer Fan der Nato.

Zweitens, Rußland: Das imperiale Ausgreifen Putins kann man durchaus als beunruhigend einstufen, Stichworte Krim, Georgien und Ostukraine. Auf jeden Fall ist Rußland heute mit seiner Präsenz in Nahost, den Verbindungen zu China, der Türkei und Iran und vor allem mit der Aufrüstung besonders der U-Boot-Flotte bereits ein globaler Player. Moskau ist auch gegenüber dem islamistischen Terror quasi ein natürlicher Verbündeter. 

Frankreich sieht sich mit Rußland auf Augenhöhe und will, erst recht nach einem Brexit, als Führungsmacht der EU mit Moskau verhandeln. Denn, so argumentierte schon de Gaulle mit Blick auf Deutschland: Die Russen werden immer in Europa präsent sein, die Amerikaner nur vielleicht.  

Das ist Realpolitik. Wenn Macron in Sachen Nato allerdings von einer „wahren europäischen Armee“ redet, beginnen die Träume. Wie könnte eine Vergemeinschaftung totgesparter Armeen als Motor der europäischen Integration dienen? Außerdem: 22 EU-Mitgliedstaaten sind auch Nato-Mitglieder. Für sie gilt die Bündnisklausel gemäß Artikel 5 des Natovertrags. Für die anderen Eventualitäten sieht Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags ebenfalls eine EU-Bündnisklausel im Rahmen der Vereinten Nationen vor. Das Gerede in Paris von einer gemeinschaftlichen Armee hat nur dann einen Sinn, wenn es um Ressourcen sparende Rüstungskooperationen geht, nicht um ein politisches Projekt. Niemand kann sich vorstellen, wie eine Teilung der Befehlsgewalt über die Force de Frappe aussehen soll.