© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

Kaum Empörung über Ankaras Coup
Nordsyrien: Staatspräsident Erdogans „Safe Zone“ nimmt langsam Formen an
Marc Zoellner

Exakt zwei Monate ist es her, daß die ersten Panzer aus der Türkei in den Norden Syriens vorrückten: Doch erstmalig folgten dem Treck der Soldaten diesen Montag auch zivile Fahrzeuge; schwere Transporter, die Bagger und Planierraupen geladen haben sowie Lkws mit Fuhren von Zement und Ziegeln. Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist der 9. Dezember ein Tag des Sieges. 

„Heute haben wir damit begonnen, für eine Million Menschen Häuser in den Städten von Tal Abyad und Ras al-Ain zu errichten“, verkündete der türkische Präsident vor Reportern der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Mehr denn je hofft Ankara auf eine rasche Wiederansiedlung der immerhin weit über 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die sich derzeit in der Türkei aufhalten. Und die Chancen stehen recht gut, daß Erdogans Operationsziel, eine dauerhafte Besatzungszone (Safe Zone)  in Nordsyrien zu errichten, noch aufgehen könne.

Radikalsunnitische Milizen  erledigen die blutige Arbeit 

Offiziell sprechen türkische Medien und Regierungsvertreter von einer Sicherheitszone: nämlich jener gegen die kurdischen YPG-Milizen, denen – nicht unbestätigt – enge Verbindungen zur linksextremen türkisch-kurdischen Terrorgruppe PKK nachgesagt werden. 

In den vergangenen Jahren war es der YPG gelungen, sowohl im Konflikt mit der Syrisch-Arabischen Armee (SAA) des syrischen Machthabers Baschar al-Assad als auch mit den Dschihadisten des radikalsunnitischen Islamischen Staats (IS) größere zusammenhängende Gebiete an der türkischen Grenze unter kurdische Kontrolle zu bringen und daraus einen de facto von Syrien autonomen Kurdenstaat zu formen. 

Der rasche Vormarsch der türkischen Truppen seit dem 9. Oktober jedoch bewies die Fragilität dieses Gebildes. Die YPG hatte sich einem Schutzbündnis mit al-Assad zu unterwerfen, dessen Bestand seitdem von russischen Truppen an den Grenzen der türkischen Besatzungszone – zusammen mit türkischen Soldaten – peinlichst überwacht wird.

Für die Türkei stellt das Remis-Abkommen zwischen den im syrischen Bürgerkrieg involvierten Groß- und Regionalmächten – allen voran der eigenen Aussöhnung mit dem einstigen Rivalen Rußland – einen Sieg auf ganzer Linie dar. „Über 4.000 Quadratkilometer Land konnten bereits von den Terroristen in Nordsyrien befreit werden“, erklärte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay am Montag im türkischen Parlament. Doch der „Kampf der Türkei gegen den Terrorismus und die ‘Operation Friedensquelle’“ würden weiter andauern, bis die Terroristen in dieser Region vollständig beseitigt worden seien.

 Bis Wochenbeginn konnten laut türkischen Angaben über 1.230 kurdische Milizionäre „eliminiert oder gefangengenommen“ werden. Die Verluste auf türkischer Seite halten sich mit 16 toten Soldaten im überschaubaren Rahmen. Einzig die Rebellengruppe der Syrischen Nationalarmee (SNA), die auf türkischer Seite an vorderster Front gegen die YPG eingesetzt wird, mußte mit 260 getöteten sowie über 760 vermißten Milizionären bitter einstecken.

Speziell die ehemalige kurdische Minderheit, die derzeit aufgrund der vielfältigen Fluchtdynamiken die Bevölkerungsmehrheit stellt, befürchtet erneute Vertreibungen bis hin zu ethnischen Säuberungen von seiten der SNA, die sich neben moderaten Rebellen auch aus den Reihen radikaler Sunnitenmilizen rekrutiert. „Fraktionen der SNA haben wiederholt Zivilisten hingerichtet sowie das Verschwinden von Entwicklungshelfern nicht erklären können oder wollen, die in der ‘Sicherheitszone’ eingesetzt waren“, begründete Human Rights Watch bereits Ende November derartige Befürchtungen. „Diese bewaffnete Gruppe verweigerte überdies kurdischen Familien, die vor der türkischen Militäroperation geflohen waren, die Rückkehr und plünderte stattdessen deren Besitz,“ erklärte die Menschenrechtsorganisation.

Sechs-Milliarden-Euro: Ankara und Brüssel uneins 

Doch auf internationaler Staatsebene scheint die Empörung über Erdogans Offensive an Gewicht zu verlieren. 

So berichtet Daily Sabah, daß es  Erdogan am Rande des Nato-Treffens von vergangener Woche gelang, eine Vereinbarung über weitere Gespräche zur Wiederansiedlung der syrischen Flüchtlinge mit seinen britischen, französischen und deutschen Amtskollegen zu erzielen. „Türkische Offizielle bestätigten, daß die Stimmung in der Tat positiv war“, enthüllte der Journalist Yahya Bostan Details zu den Gesprächen. „Die bedeutendste Entscheidung der Staatsführer war, weiterhin in Verbindung zu bleiben.“ 

Ihr nächstes Treffen sei für kommenden Februar in Istanbul angesetzt. Dann wird es auch um eine ganze Stange Geld gehen: Immerhin, hatte Erdogan erklärt, kostete die Flüchtlingskrise die Türkei bislang über 40 Milliarden US-Dollar. Hinzu kämen noch einmal die 3,5 Milliarden US-Dollar, die für den Wiederaufbau der Städte und Dörfer in der türkischen Sicherheitszone veranschlagt werden. Doch in Ankara, so Erdogan, warte man noch immer vergeblich auf die von der EU versprochenen sechs Milliarden Euro finanzieller Hilfsleistungen. 

Brüssel dagegen betont, alle Zusagen eingehalten zu haben: „6 Milliarden Euro für Flüchtlinge in der Türkei sind bis ins Jahr 2025 verplant“. Bisher seien 2,6 Milliarden Euro „ausgezahlt“ worden. Die weiteren 4,3 Milliarden Euro seien zudem „restlos vertraglich gebunden“.