© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

Immer dem Zeitgeist angepaßt
Hundert Jahre deutsches Steuersystem: Wachstum und Effizienz streiten mit Umverteilung und Gerechtigkeit
Dirk Meyer

Wieviel Zeit benötigt ein völlig neues Steuersystem, das zudem in Grundzügen 100 Jahre Bestand haben soll? Antwort: ganze 14 Monate. Im November 1918 begannen die Arbeiten, am 13. Dezember 1919 wurde die Reichsabgabenordnung (RAO) beschlossen, und im März 1920 war alles vollbracht. „Steuerreformen glückten den fähigsten Staatsmännern auch in den bestorganisiertesten Staaten nur in Zeiten der größten Not oder des größten nationalen Aufschwungs“, das wußte schon zu Kaisers Zeiten der preußische Staatsrat Gustav von Schmoller. Die Weltkriegsniederlage, zerrüttete Finanzen mit einer Staatsverschuldung von etwa 150 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), die Lasten des Versailler Vertrages und ein chaotischer Übergang zur Republik gaben die Rahmenbedingungen mit entsprechendem Zeitdruck.

 Ordnungspolitische Rahmensetzung

Die Erzbergerschen Steuer- und Finanzreformen unternahm eine 76,1-Prozent-Koalition aus SPD, Zentrum und linksliberaler Deutscher Demokratischer Partei. Ausgangspunkt war das Steuersystem des Kaiserreiches. Als „Nachtwächterstaat“ mit wenigen Aufgaben waren dessen Anforderungen gering. Die Steuerkompetenz lag vornehmlich bei den Ländern, die das Reich durch Matrikularbeiträge unterhielten. Wesentliche Bausteine des neuen Steuersystems haben bis heute Bestand: die Abgabenordung mit der Umsatz-, Einkommen- und Körperschaftsteuer, die eigenständige Finanzgerichtsbarkeit, die professionalisierte Finanzverwaltung sowie der zentralistisch-kooperative Finanzföderalismus. Der Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden wurde zentralisiert. Sehr modern wirken aus heutiger Sicht der direkte Lohnsteuerabzug (Quellenabzug) und ein progressiver Einkommensteuertarif.

Das Thema Wachstum und Effizienz gegenüber Umverteilung und Gerechtigkeit kennzeichnet seitdem die ideologischen Grundpositionen. Konservative und Liberale heben die ordnungspolitischen Rahmensetzungen einer auf Privateigentum und freier wirtschaftlicher Betätigung beruhenden Wirtschaftsordnung hervor. Hohe Belastungen sind bei einer breiten Besteuerungsbasis deshalb zu vermeiden. Grüne, SPD und Linke aber auch die Union stellen den Steuerstaat ins Zentrum einer Regional- und Strukturpolitik, einer sozialen Sicherung und breiten Daseinsvorsorge. Ertragreiche Lenkungssteuern wie die Energie-, Kfz-, Strom-, Tabak- oder die Ticketsteuer sind Ausdruck eines Interventions- und Umverteilungsstaates. Das Spannungsverhältnis zwischen einer liberalen Eigentumsordnung mit Besteuerungseingriffen einerseits und Umverteilungsansprüchen bis hin zur Enteignung andererseits zeigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wie das „Halbteilungsgrundsatz-Urteil“ von 2006.

Gewandelte Rahmenbedingungen und politische Zielsetzungen führten über die Jahrzehnte zu Anpassungen. Zum einen wurde der zentralistisch-kooperative Finanzföderalismus mit einer überwiegenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes, einem Steuerverbund bei den Gemeinschaftssteuern und einem ergänzenden Finanzausgleich gestärkt. Vom Steueraufkommen (2018) in Höhe von 771 Milliarden Euro entfallen auf Gemeinschaftssteuern 73,5 Prozent, Bundessteuern 14,1 Prozent, Landessteuern 3,1 Prozent und Gemeindesteuern 9,3 Prozent. Die Finanzverwaltung liegt überwiegend ortsnah bei den Ländern. Als zweiter Trend ging der Anstieg der staatlichen Tätigkeit mit einem Anstieg der Steuerbelastung einher. Als alternative Finanzquellen wurden außerdem Sozialbeiträge (ab 1970) und der Staatskredit (ab 1995) zunehmend zur Einnahmenerzielung genutzt. Die Abgabenquote aus Steuern und Sozialbeiträgen stieg von 17 Prozent (1925) auf 35 Prozent (1960) und pendelt seit 1970 zwischen 38 und 41 Prozent.

Wahrung von Besitzständen, Angst vor Steuerausfällen

Ursache war insbesondere der Ausbau des Sozialstaates, so die Rentenreform 1957 mit der dynamisierten Altersrente, die Grundsicherung der Sozialhilfe (1961), das Wohngeld (1965) und das Kindergeld (1954/1961). Eine dritte Entwicklungslinie zeigt eine Verlagerung der Besteuerung weg vom Vermögen und hin zum Einkommen. Die Vermögensteuer wurde 1997, die Gewerbekapitalsteuer 1998 abgeschafft. Hintergrund der Abschaffung dieser „Sollertragsteuern“ war der hohe Verwaltungsaufwand, der bei der Vermögenssteuer 32 Prozent des Aufkommens betrug. Wie zudem die Grundsteuer aktuell zeigt, ist die Erfassung/Bewertung des Vermögens schwierig. Nicht zuletzt ist die Komplexität des Steuersystems erheblich angestiegen. Als Indikatoren können der Arbeitsaufwand für Steuererklärungen, der Umfang des Steuerrechts, Umfang und Inhalt der steuerrechtlichen Literatur (Gesetzes­kommentare, Zeitschriftenaufsätze etc.), die Zahl der Streitigkeiten vor Finanzgerichten und die Komplexität des Tarifverlaufs genommen werden. Vorstöße wie der Bierdeckel-Vorschlag von Friedrich Merz und das Steuerreform-Konzept von Paul Kirchhof scheiterten an der Wahrung von Besitzständen, zu erwartenden Steuerausfällen und nicht zuletzt am Berufsstand der Steuerberater, die um ihre Beschäftigung fürchteten.

Daneben entstanden zeitbedingte Anforderungen an das Steuersystem. Hierzu zählen die Vermögensabschöpfungen nach den beiden Weltkriegen. Mit dem „Reichsnotopfer“(1919) sollten die immensen Staatsschulden abgebaut werden. Die Reichsfluchtsteuer (1931, verschärft 1934) belastete Kapitaltransfers ins Ausland. Mit einer Vermögensabgabe nach 1938 und der Konfiskation des Besitzes jüdischer Bürger wurde die Finanzverwaltung ganz in den Dienst der brutalen NS-Herrschaft gestellt.

Das „Notopfer Berlin“ wurde von 1948 bis 1956 als Zuschlag zur Einkommens- und Körperschaftsteuer erhoben. Der Lastenausgleich von 1952 diente der Kompensation von Kriegsschäden sowie als Entschädigung an Vertriebene und NS-Opfer. Weitere Anpassungen wurden aufgrund der Globalsteuerung (1967) mit ihrer aktiven Struktur-/Regional- und Konjunkturpolitik vorgenommen. Anläßlich der Wiedervereinigung wurde der Solidaritätszuschlag eingeführt, der erst ab 2021 weitgehend entfallen soll. Die Mehrwertsteuer stieg von einst zehn auf heute 19 Prozent.

Der Internationalisierung und Steuerharmonisierung wurde mit Doppelbesteuerungsabkommen (1925), der Umsatzsteuerreform (1968) und aktuell mit einer geplanten „Google-Steuer“ Rechnung getragen. Die ökologischen Steuerreformen begannen mit speziellen Energie- und Stromsteuern, derzeit geht es um die „CO2-Bepreisung“. Demographischer Wandel, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz (KI) und die Wissensgesellschaft werden genügend zukünftige Anforderungen bieten.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Studie „100 Jahre deutsches Steuersystem: Grundlagen, Reformen und Herausforderungen“ (DIW Wochenbericht 47/19):  doi.org