© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

Zeitschriftenkritik: Sinn und Form
Dämonen des Konformismus
Dirk Glaser

Seit 1967 reüssierte Erich Fried (1921–1988) mit zwei Dutzend Bändchen „platter Agitationslyrik“ (Jörg Drews) als Barde der Studentenbewegung. Als Apologet der Baader-Meinhof-Bande, als Kritiker der israelischen Palästinenser-Politik und, dies der Urquell seines unablässig sprudelnden Tintenflusses, als Ankläger der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft und deren „Nazi-Vergangenheit“.

Als nach dem „Anschluß“ 1938 ins englische Exil getriebener Jude und Kommunist, der eine Großmutter in Auschwitz verlor, dessen Vater an den Folgen der Gestapohaft starb, durfte Fried sich durchaus legitimiert fühlen, den Deutschen permanent ihre „Schuld“ vorzuhalten. Nur vermochte er dieses moralische Kapital, anders als etwa Paul Celan oder Nelly Sachs, nicht künstlerisch auszumünzen. Kam doch, was Fried lyrisch oder essayistisch zur Shoah kundtat, selten über peinliche Versuche hinaus, aus Opfern eines Menschheitsverbrechens tagespolitisch Profit zu schlagen. Was als Kunstform sich allzu häufig im Zeitgeistkitsch auflösen mußte. 

Unter diesem Aspekt betrachtet, ist der im „Kampf gegen Rechts“ engagierte literarische „Vergangenheitsbewältiger“  Durs Grünbein ein veritabler Wiedergänger Erich Frieds. Dem 1962  in Dresden geborenen Büchner-Preisträger fehlt allerdings dessen authentische Leidenserfahrung. Ein Erfahrungsmangel, der, in Verbindung mit  einem atemberaubenden Wissensdefizit zur NS-Ära,  zwangsläufig nur durch ein Plus an Kitsch zu kompensieren ist, den einmal mehr Grünbeins keine Plattheit scheuende „Kartengrüße aus dem Dritten Reich“ dokumentieren. Neueste Gedichte, die er zu einem der „Inneren Emigration“ gewidmeten Heft von Sinn und Form (6/2019) beisteuert. Weder Stil- noch Schamgefühl hindern ihn hier, ins billigste Kopfkino einzuladen: „Am anderen Ufer, hinter der Front/verschwiegene Villen, Tennisplätze/und Tummelplätze der Goldfasane,/Orte für so manche Geheimkonferenz.“ So klingt tatsächlich ein Poem aus, das Grünbein mit einer 1942er-Postkarte vom Strandbad Wannsee illustriert, die den Blick aufs Gegenufer freigibt, wo Bäume die Villa Minoux verbergen, den Ort der „Wannseekonferenz“.

Daß Grünbein mit solchen Hollywood-Impressionen über das Dritte Reich beim zeithistorischen Pisa-Test durchfällt, spiegelt zwar bundesdeutschen Amnesie-Standard wider. Aber noch gibt es Alternativen, wie sie in diesem Heft Wolfgang Matthias Schwiedrziks „andere Geschichte des deutschen Widerstands“ über die Gesellschaft Imshausen, vor allem aber die Beiträge über Martin Kessel (1901–1990) und den am 2. Mai 1945 von Rotarmisten in Kleinmachnow ermordeten Friedo Lampe (1899–1945) bieten. Beide Autoren, Lampe, der Exponent des „Magischen Realismus“, Kessel, der an E. T. A. Hoffmann und Nikolai Gogol geschulte „satirische Exzentriker“, haben den „Dämonen des Konformismus“ getrotzt. Von ihnen könnten die Grünbeins heute viel lernen. 

Kontakt: Sinn und Form, Akademie der Künste Berlin, Hanseatenweg 10. Das Einzelheft kostet 11 Euro, ein Jahresabo 45 Euro.

 www.sinn-und-form.de