© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Das schwedische Möbelhaus Ikea teilt mit, daß in seinen Filialen zukünftig kein Weihnachts-, sondern nur noch ein „Winterfest“ begangen wird. Auf Irritationen reagierte die Firmenleitung mit dem Hinweis, daß für diese Entscheidung rein kommerzielle Gründe ausschlaggebend waren.

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Der Angriff, dem in Augsburg ein Mann zum Opfer fiel, soll selbstverständlich als Einzelfall, als unglücklicher Zusammenstoß gelten. Aber man wird das Gefühl nicht los, daß es sich um einen symptomatischen Vorgang handelt: Jung gegen alt, aggressiv gegen achtsam, eingeboren gegen eingewandert, Zukunft gegen Vergangenheit.

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In einem Interview mit der Zeitschrift Le Point hat der in Frankreich populäre Humorist Gaspard Proust auf die Frage, warum er – im Besitz eines slowenischen und eines Schweizer Passes – nicht die französische Staatsbürgerschaft beantrage, geantwortet: „1990 besuchte ich das französische Gymnasium in Algier. Ich war ein kleiner Slowene. In jener Zeit verehrte ich Frankreich und sagte mir, wenn ich eines Tages den französischen Paß besäße, würde ich meinen Kindern sagen können: Seht, nun seid ihr Teil einer großen Nation, in der eure Vorfahren – selbst wenn ihr den Zug erst unterwegs erwischt habt – Karl der Große, Ludwig XIV., Napoleon, de Gaulle, Hugo, Molière, Baudelaire, Camus, Monet, Rodin, David, Poussin etc. hießen. Frankreich, das ist nicht nur eine vage Idee, wabernd über der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, das ist eine harte Realität, das ist ein Land, ein Volk, eine Kultur; kurz: eine Welt. Heute kenne ich wenige Personen, die aus dem Osten kommen … und einen französischen Paß begehren. Denn ein Land, das sich so geringschätzt, das sich vor jedem beugt, hat nichts Anziehendes … ich sehe von morgens bis abends die Politiker hervorstoßen ‘Die Republik! Die Republik! Die Republik!’ Aber die Welt ist voll von Republiken. Was mich interessiert, ist nicht die Organisation eurer Demokratie, sondern, warum Frankreich Frankreich ist und nicht Slowenien, Deutschland, Algerien oder Südkorea. Die Realität ist, daß Frankreich ein multikulturelles Land geworden ist; also warum Franzose werden, wenn man die ganze Zeit meine ursprüngliche Herkunft feiert?“

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Es hat mich immer schon interessiert, wie es einem als Teil einer anerkannten Opfergruppe geht. Jetzt ist es soweit. Die ARD-Sendung „Report“ hat aufgedeckt, daß Kinder, die zwischen den sechziger und neunziger Jahren zur Kur „verschickt“ wurden, bedroht, geschlagen, eingesperrt, anderweitig mißhandelt und fallweise so traumatisiert wurden, daß das bis heute nachwirkt. Tatsächlich gehöre ich zu den Betroffenen. Für sechs Wochen hat man mich als Achtjährigen nach St. Peter-Ording gebracht und dem drakonischen Regime von „Tante Gäbchen“ und ihren Bütteln ausgeliefert. Eine Ohrfeige war das mindeste, was man für „frech geguckt“ kassierte. War der Waschplatz nicht aufgeräumt, wurde man aus dem Bett geholt und bekam mit dem Handtuch eins übergezogen. Obendrein gab es die Schikanen durch die Älteren, denen die Betreuer tatenlos zusahen. Ging es glimpflich ab, mußte man nur seinen Nachtisch herausrücken. Aber es riskierte auch eine Tracht Prügel, wer „petzte“, aufbegehrte oder nur das Mißfallen irgend-eines wortführenden Rüpels riskierte. Also weinten wir uns oft in den Schlaf, aus Angst, aber häufiger aus Heimweh. Als ich schließlich wieder nach Hause kam und meinen Eltern von den Zuständen erzählte (unsere Briefe, die wir regelmäßig schreiben mußten, waren selbstverständlich zensiert worden), hat mein Vater sofort eine Beschwerde verfaßt, die zusammen mit anderen zur Schließung des Heims führte. – So sehr es mich lockt, endlich einmal Gegenstand allgemeiner Empathie zu sein, möchte ich betonen, daß ich der Neigung, noch einen Skandal im Hinblick auf frühere Verhältnisse aufzudecken, mit Skepsis gegenüberstehe. Die Gründe seien kurz genannt: 1. Es besteht die Gefahr, daß jenseits der tatsächlichen Übergriffe die damaligen Zustände weiter dramatisiert werden, weil sie den Heutigen kaum noch nachvollziehbar sind. 2. Was ich erlebt habe, dürfte kaum schlimmer gewesen sein, als das, was seit je an einem Jungeninternat üblich war. 3. Ich glaube, daß das Ganze auch einer Charakterstärkung diente; man lernte schon als Kind eine wichtige Lektion: das Leben ist hart, aber ungerecht. 4. Ich verdankte der „Verschickung“ auf Kosten der Allgemeinheit die körperliche „Schulfähigkeit“.

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Bildungsbericht in loser Folge CXXIV: Die Reaktionen auf den jüngsten Pisa-Bericht zu Schulleistungen sind verhalten ausgefallen. Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Eine sollte besonders beunruhigen, tut es aber nicht. Die Annahme, es werde im Zweifel genügen, einen Knopf zu drücken und damit auf regulären Betrieb umzuschalten. Prompt würden Eltern erziehen, Lehrer lehren, Schüler lernen. Das setzt ein ganz unbegründetes Vertrauen in das zuständige Personal voraus.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 3. Januar in der JF-Ausgabe 2/20.