© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

Die Hand, die er dir reicht
Kino: Der neue Film der Dänin Lone Scherfig paßt mit seiner christlichen Botschaft bestens in die Adventszeit
Dietmar Mehrens

The Kindness of Strangers – Kleine Wunder unter Fremden“. Ein solcher Bandwurmtitel für einen neuen Kinofilm wirft schon vor dem Ansehen erst mal die Frage auf, ob man ihn nicht um fünfzig Prozent kürzen könnte, zumal seine Urheberin noch nicht einmal aus einem englischsprachigen Land stammt: Lone Scherfig ist Dänin. Mit dem großartigen Swinging-London-Porträt „An Education“ gelang ihr 2009 ein internationaler Erfolg samt Oscar-Nominierung.

„Die Hand, die er dir reicht“ wäre vielleicht der passendere Verleihtitel für Scherfigs jüngste Regiearbeit gewesen. Es geht darin nämlich um eine junge Frau, Clara (Zoe Kazan), die eine helfende Hand bitter nötig hat. Das Leben meint es, zumindest am Anfang der Filmgeschichte, nicht besonders gut mit ihr und ihren zwei kleinen Söhnen Anthony und Jude. Clara mußte mit ansehen, wie ihr Ehemann den größeren der beiden, Anthony, mißhandelte. Nun ist die 26jährige mit den Kindern auf der Flucht vor ihm. Aus gutem Grund: Später wird klar, daß der Mann ein Sadismus-Problem hat. Da er Polizist ist, scheidet die Polizei als Freund und Helfer aus. Clara meidet sie wie der Teufel das Weihwasser. Und Anthony würde seinen Vater am liebsten umbringen. Besonders übel nimmt er ihm, daß er seinen Erstgeborenen zu Gewaltakten gegen seinen kleinen Bruder Jude gezwungen hat. Doch Anthony wird lernen, daß Vergebung der bessere Weg ist. Wesentlich dafür ist die Begegnung des Trios mit Marc.

Auf den treffen Clara und ihre Kinder bei ihrer Flucht durch New York, dessen pulsierendes Leben Scherfig in stimmungsvollen Momentaufnahmen festgehalten hat. Marc (Tahar Rahim) ist wie die junge Mutter ein vom Schicksal Gebeutelter und war sogar im Gefängnis. Jetzt leitet er das russische Restaurant von Timofey (Bill Nighy) und nimmt an den Gesprächsrunden der kirchlichen Selbsthilfegruppe „Vergebung“ teil. Dreh- und Angelpunkt der diakonischen Einrichtung, zu der auch eine Suppenküche gehört, ist die alleinstehende Krankenschwester Alice (Andrea Riseborough), die mit den Hilfesuchenden nach dem Urteil eines von ihnen so umgeht, wie Jesus es in der Bergpredigt empfohlen hat: „Du bist nett zu ihnen, auch wenn sie es nicht sind.“

Kaleidoskop von Alltagsdramen

Auf eine verständlichere Formel kann man das christliche Feindesliebe-Gebot kaum bringen. In der Tat pflegt Alice einen streng altruistischen Lebensstil. Fast schon philosophisch klingt ihr Motto: „Was gibt dir eigentlich das Recht, unfreundlich zu sein?“ Als Marcs Freund, der Anwalt John Peter (Jay Baruchel), der ebenfalls dem Gesprächskreis angehört, Clara in Aussicht stellt, sie im Prozeß gegen ihren gewalttätigen Ehemann zu vertreten, schöpft die Erschöpfte neue Hoffnung. Und daß Marc etwas mehr als bloß Nächstenliebe für sie zu empfinden scheint, könnte sich ebenfalls positiv auf Claras Gesamtsituation auswirken.

Marc, John, Peter – das sind wohl nicht zufällig die Namen von Jesus-Jüngern und Evangelisten. Aber auch ohne solch augenfällige Symbolik dürfte selbst der Schlichtestgestrickte begreifen, daß Scherfigs Film nicht mehr und nicht weniger ist als ein christliches Gleichnis in säkularem Gewand. Überall in ihrer kleinen Geschichte hat die gebürtige Kopenhagenerin Gesten, Taten, Augenblicke spontaner Solidarität und Hilfsbereitschaft eingebaut, die exemplarisch die Wirkung gelebter Nächstenliebe zeigen. Ihr ginge es darum, erläuterte sie in einem Interview, Momente des Mitgefühls und der Güte in eine Geschichte einzubinden „und dann hoffentlich ein Ende finden zu können, das optimistisch und voller Hoffnung ist“.

„Kleine Wunder unter Fremden“ ist nicht der Versuch, ein großes Einzelschicksal zu einem Filmdrama von existentialistischer Wucht zu verarbeiten. Der Film handelt von den kleinen Tragödien, die sich im Leben eines jeden zutragen können. Eingewoben in ihr Kaleidoskop von Alltagsdramen hat die Regisseurin eine zeitlose Botschaft: Vergebung befreit und Nächstenliebe macht froh.

Daß ihr das ohne ostentativ erhobenen Zeigefinger gelungen ist und daß sie es vermeidet, ungeschickt in jede Klischeefalle zu tapsen, die eine herzerwärmende Geschichte, zumal zur Weihnachtszeit, mit sich bringt, läßt darüber hinwegsehen, daß sich aus den Begegnungen von Clara, Marc, Alice, John Peter und den anderen selten etwas ergibt, das den Zuschauer elementar aufwühlt oder ihm gar den Atem raubt.

Der Film startet am 12. Dezember