© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/19 / 13. Dezember 2019

Angst vor dem Volk
Kohls wegweisende Rede in Dresden vom 19. Dezember 1989
Paul Leonhard

Mit Bundeskanzler Helmut Kohl sprangen die Dresdner bei dessen Staatsbesuch im Dezember 1989 nicht anders um, als es die zu Revolutionären gewordenen DDR-Bürger mit ihrer einstigen Obrigkeit und deren Schergen taten: „Wir sind das Volk!“  tönten die Sprechchöre auch auf dem Neumarkt. Das hieß: Wir bestimmen.

Kohl wurde am späten Nachmittag des 19. Dezember frenetisch begrüßt, als er auf die Tribüne vor der angestrahlten Ruine der Frauenkirche trat und seine „lieben Landsleute“ auf dem Platz vor der Ruine der Frauenkirche begrüßte. Erstmals brandete Beifall auf, als Kohl sagte: „Wir respektieren das, was Sie entscheiden für die Zukunft des Landes.“ Die Antwort war eindeutig: „Deutschland, Deutschland.“ Im Verlauf der Rede wurden die Gesichter der Zuhörer allerdings immer länger. Der später als „Kanzler der deutschen Einheit“ gefeierte, gab sich in Dresden als überzeugter Europäer: „Die Zukunft Deutschlands – und damit meine ich sowohl die DDR als auch die BRD – liegt in Europa.“

Allein die Dresdner wollten keine Diplomatie, sondern Klartext. Der Bundeskanzler sollte sich zum Grundgesetz bekennen und die Einheit Deutschlands so schnell wie möglich herstellen. Sie wollten keine Konföderation, keine Vertragsgemeinschaft, sondern „ein Bundesland Sachsen“, wie es auf den selbst gemalten Plakaten hieß, die dem Kanzler entgegengehalten wurden.

Ihr Ruf „Wir sind das Volk!“ war eine Drohung, notfalls über politische Entscheidungen mit den Füßen abzustimmen. Kohls Bitte „Wir wollen, daß Sie in ihrer Heimat bleiben und hier Ihr Glück finden können“, beantworteten die Kundgebungsteilnehmer mit zwei Worten: „Deutschland, Deutschland“ und erneut mit „Wir sind das Volk“. Von gemeinsamen Regierungs- und Parlamentsausschüssen wollten diese Menschen nichts hören, Beifall gab es erst, als Kohl als sein Ziel „die Einheit unserer Nation“ nannte.

Schon am Morgen war das Hotel Bellevue dicht umringt von erwartungsvollen Menschen gewesen. Bereitschaftspolizisten in ihren Winter-uniformen und Ordner des „Neuen Forums“ mit der für sie typischen Schärpe „Keine Gewalt“ um den Oberkörper sorgten dafür, daß die Wartenden hinter dem Absperrband blieben. Diese hielten Plakate mit Aufschriften wie „Mit Kohl zur Einheit Deutschlands“ und „Bundesland Sachsen grüßt den Bundeskanzler“ in den Fäusten sowie Deutschland- und grün-weiße Sachsenfahnen. Sprechchöre ertönten immer wieder, Beifall brandete auf, als der Kanzler erschien.

Wie schnell ein Politiker wie Kohl seinen Kurs zu ändern vermag, wenn sich die Ausgangslage geändert hat, bekam als erster Hans Modrow zu spüren. Auf der abschließenden Pressekonferenz am 20. Dezember im Dresdner Kulturpalast spielte der von der SED eingesetzte Ministerpräsident, der unter allen Umständen den Kommunisten die Macht sichern sollte, keine Rolle mehr.

Modrows Bitte, ihm 15 Milliarden Mark zur Verfügung zu stellen, um einen Staatsbankrott für 1991 abzuwenden, ignorierte Kohl, auch wenn er in Dresden noch versprochen hatte, die DDR-Wirtschaftskraft zu stärken, und die Modrow-Regierung aufgefordert hatte, Rahmenbedingungen für Investitionen zu schaffen: Die DDR wäre ein „hochkultiviertes Land mit prachtvollen Leuten mit erstklassiger Ausbildung und dem Willen, etwas zu schaffen“, hatte Kohl gesagt und Ost- wie West-Journalisten in die Blöcke diktiert: Es dürfe nicht sein, daß die Leute in der DDR „an ihrer eigenen Zukunft verzweifeln oder sagen, wir gehen hier weg“.

Blick auf dei Entwicklung in den „Bruderstaaten“

Kohl blickte aber auch mit Spannung auf die Entwicklung in den anderen sozialistischen Bruderstaaten, auf die Reformprozesse in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und vor allem der Sowjetunion. Wie sollte letztere bewogen werden, ihre Besatzungsarmeen aus der DDR abzuziehen? Dies war aber die Grundvoraussetzung für die Einheit Deutschlands. „Wenn einer dieser Prozesse abgebrochen würde, hätte das fatale Folgen für die Entwicklung in der DDR“, mahnte Kohl.

Trotz seiner offiziellen Zusagen war SED-Mann Modrow für Kohl fortan kein Verhandlungspartner mehr. Außer den Alt-Stalinisten und SED-Reformern hatten auch die von der Staatssicherheit verfolgten Bürgerrechtler verloren. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan und dem Volk aufgezeigt, wie morsch das System war. Jetzt bestimmten die Werktätigen tatsächlich das Tempo des innenpolitischen Zerfalls des angeblichen Arbeiter- und Bauernstaates.

Dem Bundeskanzler war klar, daß er lediglich abwarten mußte, ob sich bei den für Frühjahr angesetzten freien Wahlen die reformierte Ost-CDU oder die neugegründete SDP (die spätere Ost-SPD) durchsetzen würde. Bis dahin mußte er zusammen mit den USA die anderen Siegermächte überzeugen, daß es zur schnellen Wiedervereinigung keine Alternative gab. Und den noch starken Vertriebenenverbänden und den in ihrer Heimat verbliebenen Schlesiern mußte er beibringen, daß die Bundesregierung die Oder-Neiße-Linie als Grenze anerkennen werde. Deutschland würde endlich seinen Friedensvertrag erhalten, gleichzeitig realpolitisch wachsen und historisch gesehen endgültig schrumpfen.