Die Strecke von Hamburg nach Greifswald wird nur von „Ferkeltaxen“, wie  Regionalzüge von Berlinern genannt werden, befahren. Mein Umfeld am Hamburger Hauptbahnhof läßt keine Langeweile aufkommen: Rasterlocken, phantasievolle Tätowierung, Trinker, Bettler, Flaschensammler. Plötzlich steht ein schlaksiger dunkler Mann vor mir und fragt in gebrochenem Deutsch „Hier frei?“ und nimmt Platz, ohne meine Antwort abzuwarten. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er zwei Kumpanen ein Zeichen gibt. Die lassen sich dicht hinter mir nieder. Instinktiv halte ich beide Koffer fest und bin erleichtert, als meine Begleitung auftaucht und gleichzeitig der Zug einfährt.

Die 1. Klasse befindet sich in der oberen Etage. Das Abteil ist leer, bis auf einen jungen Mann, der die Abfallbehälter durchstöbert. Die Ruhe findet ein jähes Ende, als ein Ehepaar mit zwei Sprößlingen, Beuteln, Taschen und Kästen die Treppe emporpoltert und sich hinter, neben und vor uns häuslich einrichtet.

Bis zum Zwischenstopp in Stralsund hören wir zehn Gründe, warum wir Verspätung haben.

Innerhalb von zehn Minuten liegen ausgewickelte Brötchen, bunte Trinknäpfe, Apfelsaftflaschen, Handys, Kopfhörer, Plüschtiere, Spielekonsolen, Kleinflugzeuge, Buntstifte und Malbücher auf den Tischen zwischen Zweiersitzen. Die Kleinen fangen an zu spielen, den Satz „Psst, nicht so laut“ hören wir in der nächsten Stunde gefühlte fünfhundertmal. 

In Rostock steigen wir in den wartenden Zug nach Stralsund. Er rührt sich nicht von der Stelle. Endlich erfolgt die Durchsage, daß sich die Abfahrt um zwanzig Minuten verzögert. Und: „Bitte achten Sie während dieser Verspätung verstärkt auf Koffer und Handgepäck.“ Ein verwahrloster Jugendlicher schlendert den Gang entlang und fragt die Reisenden: „Entschuldigung, haben Sie vielleicht zwei Euro für ein Brötchen?“ Niemand zückt seinen Geldbeutel. Bis Stralsund hören wir zehn Gründe, warum wir mit letztlich fünfzig Minuten Verspätung ankommen werden.