© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/19 / 20. Dezember 2019

Nahöstliche Weihnachten
Besuch bei christlichen Exil-Syrern: In einer orthodoxen Gemeinde in Berlin finden wir ein halbes Dorf wieder und wahre Musterbeispiele von Integration
Christian Rudolf

An den schweren Eingangstüren zur Kirche hängen außen Tannenkränze und Plastikglöckchen, mit Reißzwecken angepinnt. Den Altarraum der neoromanischen, ehemals evangelischen Kirche trennt eine massive halbhohe Wand aus Holz, die mit Ikonen geschmückt ist – die Ikonostase. Unter den obligatorischen Ikonen Jesu Christi und Johannes’ des Täufers steht auf einem Tischchen ein Adventskranz. Drei Kerzen brennen. Es ist dritter Adventssonntag. Auch die griechisch-orthodoxe Kirchengemeinde St. Georgios in Berlin geht auf das Weihnachtsfest zu, als Rum-Orthodoxe verwenden sie wie die Westkirche den gregorianischen Kalender, mit Ausnahme von Ostern. Der Liturgie nach wird heute das Gedächtnis der Vorväter der Herrn gefeiert. Gottesdienstsprache ist Arabisch und Deutsch, und das „Kyrie eleison“ ein griechisches Überbleibsel.

Unter der geöffneten Pforte zum Altarraum steht Bischof Hanna Haikal und predigt über das Sonntagsevangelium nach Lukas, Kapitel 14. Ein Mann lädt zum Festmahl ein – und alle haben nichtige Ausreden, die Einladung auszuschlagen, obwohl das Essen dampft und sie den Gastgeber schwer brüskieren. „Es ist wichtig, daß dieses Gleichnis gerade jetzt vor Weihnachten kommt“, erklärt der Bischof und wechselt mühelos zwischen Arabisch und Deutsch, drei Sätze arabisch und gleich anschließend die Übersetzung. „Zur Kirche zu gehen, das ist oberste Priorität! Denn der, der einlädt, ist der Herr Jesus Christus selbst.“ Mit einem goldfarbenen Meßgewand angetan, in der rechten Hand ein Kreuz, unterstreicht der 52jährige ruhig, aber bestimmt die Predigt. „20 Jahre bin ich jetzt in dieser Gemeinde. Es gibt Gläubige, die ich am Weihnachtstag noch niemals hier gesehen habe. ‘Ja, denn wir haben jedesmal bis spät gegessen und gefeiert. Die ganze Familie war zusammen’, sagen sie. Oder wenn du fragst: Hast du gefastet? Manche beachten das Fastengebot nicht. ‘Gut, ja, wir machen es nächstes Jahr.’“ Die lange Bank ist des Teufels liebstes Möbelstück, heißt es. Auch die orthodox Getauften kennen sie. Bischof Haikal, der aus dem Libanon stammt und in Thessaloniki Theologie studierte, zitiert eine Umfrage aus den Medien: „Zur Kirche zu gehen, das hatten die Leute als Priorität auf dem letzten Platz! Aber wie können wir von Jesus erwarten, daß er unsere Gebete erhört, wenn uns alles andere wichtiger ist als er?“

Eine Predigt, in der es nicht um Politik oder Klima geht, sondern voll und ganz um die Beziehung des Menschen zu Gott: in deutschen Gemeinden unserer Tage keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Kirche in Berlin-Mitte ist gut gefüllt, auffallend viele junge Leute und Kinder sind gekommen. Sie bekreuzigen sich häufig und verbeugen sich ehrfürchtig vor den Ikonen, die nach ostkirchlicher Anschauung wirkliche Fenster zum Himmel sind. Besonders küssen sie zur Begrüßung die Muttergottes. Die zehnköpfige Choralschola begleitet die göttliche Liturgie des heiligen Johannes Chrysostomos mit arabischen Melodien und kräftigen „Amin! Amin!“-Ausrufen. Mitsingende Schülerinnen beten dann das Vaterunser – in akzentfreiem Deutsch.

„So etwa 200 Familien gehören fest zur Gemeinde, um die 500 Gläubige kommen“, erläutert Bischof Haikal im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. „Die meisten stammen aus Syrien und der Türkei, dem Libanon und auch dem Irak. Doch auch Deutsche kommen.“ Der Unterhalt und sämtliches Inventar werden einzig aus Spenden der Gemeinde bezahlt, die durch den Flüchtlingsstrom zuletzt stark angewachsen ist. Kirchensteuern gibt es nicht, denn die Rum-Orthodoxen haben nicht den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts wie die römisch-katholische Kirche oder die EKD.

Viele nehmen einen weiten Weg zur Kirche auf sich

Die Politik hält er aus den Predigten heraus. „Wissen Sie, das soll man nicht vermischen. Der Priester ist für die Seelen da, für den Glauben. Wenn er sich zum Politiker macht, besteht auch die Gefahr, einige Gläubige vor den Kopf zu stoßen, die anderer Ansichten sind. Das ist nicht gut.“ Nein, der Priester müsse über den weltlichen Dingen stehen und im besten Sinne neutral sein. Der Bischof lobt die Gemeinschaft unter den Gemeindemitgliedern, die sich gerade jetzt vor Weihnachten verstärkt umeinander kümmern. Für Kranke wird gesammelt. „Wir machen viel für die Jugend, haben Bibelgruppen und bieten Deutschunterricht. Die Gläubigen können immer kommen und finden hier Halt und Stärkung und Gemeinschaft.“

Am Eingang zum Kirchenschiff sind links und rechts des Mittelgangs provisorisch Gemeinderäume eingerichtet, aus Holzlatten errichtet und mit Vorhängen abgetrennt. Nach der Liturgie sitzen und stehen die Besucher bei Gespräch und Austausch zusammen, Kleinkinder wuseln unter den Tischen. „Möchten Sie Kaffee, Tee? Nehmen Sie, bitte!“ Junge Männer um die dreißig stehen als Gruppe zusammen, sie erzählen und sehen entspannt aus.

Einer von ihnen ist Rabby aus Zentralsyrien. An einer Halskette trägt er ein größeres goldfarbenes Kreuz gut sichtbar über dem Pullover. Zur Kirche geht er zur Zeit weniger regelmäßig, er trifft hier aber Freunde. Vor knapp fünf Jahren ist er über die Balkanroute eingewandert, mitten im Winter. „Unterwegs war es furchtbar kalt.“ Rabby lacht einen aus rehbraunen Augen sehr offen an. Im roten Daunenanorak mit Fellkapuze friert er im Berliner Winter garantiert nicht. Dabei hatte er damals eigentlich nach Schweden weitergewollt, zu seinem Bruder. Doch die deutsche Polizei griff ihn auf und ließ ihn nicht weiterziehen. So kam alles anders, und er blieb in Berlin. Heute studiert der 31jährige Bauingenieurwesen und muß auch jetzt am Sonntag noch etwas für die Uni lernen.

Wie viele seiner Freunde und Bekannten aus der Gruppe stammt auch der Zahnarzt Bahjat aus Kafr Buhum, einer von Christen besiedelten Kleinstadt in Zentralsyrien. Jedermann nennt sie nur mit Kurzform „Kfarbou“. Der Ort blieb vom Krieg weitgehend verschont, genau wie die acht Kilometer nördlich gelegene Provinzhauptstadt Hama, etwa auf halbem Weg zwischen Damaskus und Aleppo gelegen. Vor drei Jahren gelangte Bahjat mit damals 25 Jahren nach Deutschland, das Visum einer christlichen Hilfsorganisation machte es möglich. Hinter runden Brillengläsern im schwarzen Gestell schauen freundliche, wache Augen hervor –  Bahjat ist ein Mensch, dem man beim ersten Kennenlernen schon vertraut.

„Unterscheiden sich deutsche Zähne von syrischen Zähnen?“ will ich wissen. Nach anfangs herzhaftem Lachen antwortet Bahjat schon ernster: „In Deutschland kommen die Patienten meist nur zur Kontrolle, in meiner Heimat dagegen gehen sie zum Zahnart nur, wenn es gar nicht anders mehr auszuhalten ist.“ Der Krieg hat auch das funktionierende Gesundheitssystem zerrüttet, die Krankenversicherung ist kaputt. Den Arzt muß man in bar bezahlen, und der ist teuer.

In exzellentem Deutsch berichtet der junge Arzt von seinem neuen Leben: Unter der Woche arbeitet Bahjat in seinem Beruf in einer Praxis in Kaltenkirchen bei Hamburg, am Wochenende fährt er meist nach Berlin, um Freunde zu treffen, aber vor allem, um zur Kirche zu kommen. „Denn in Quickborn gibt es nur eine ganz kleine rum-orthodoxe Gemeinde.“ Was denkt er über die Predigt vorhin? „Hmm, also wir sind alle ledig“, und er deutet mit dem Arm auf seine Freunde, „doch bei unserer Jugendgruppe, die sich einmal im Monat trifft zum Bibellesen und so, lassen sich die jungen Frauen kaum blicken. Es scheint, sie stellen Gott auch nur an die letzte Stelle.“ Man merkt ihm an, daß er das bedauert.

Nachher, beim gemeinsamen Essen in einem arabischen Restaurant, fehlt Fleisch auf Bahjats Teller. Er beachtet die vierzigtägige vorweihnachtliche Fastenzeit, die bei den Orthodoxen am 15. November beginnt. Auch an Sonntagen nimmt er keine Fleischspeisen und kein Fett zu sich. „Weil Jesus auch 40 Tage in der Wüste ununterbrochen gefastet hat.“ Aber nein, das sei keine Schwierigkeit, winkt Bahjat ab, im Gegenteil: „Es macht Freude, und es ist nötig als geistliche Vorbereitung auf das Fest der Geburt Christi.“ Und jetzt verwendet er in deutscher Rede das arabische Wort „Dschihad“, das nahezu zu einem Synonym für islamischen Terror geworden ist. Aber im Mund des syrischen Christen Bahjat hat es einen vollständig anderen Klang: „Dschihad ist ein inneres, geistliches Ringen um das Gute, das ist Fasten und Überwinden der Bequemlichkeit – wenn man zum Beispiel betet, obwohl man eigentlich müde ist.“

„Alle Christen bei uns teilen Freuden und Sorgen“

„Gurke ist gut fürs Herz“, wirft jemand Johnny zu beim Blick auf den Teller. Und als Anspielung auf dessen Kardiologiestudium. Der 28 Jahre alte gemütliche Dicke hat Arbeit als Assistenzarzt auf der Station für Inneres in einem Krankenhaus in Forst/Lausitz gefunden. „Frauen sind gut fürs Herz!“ gibt er zurück. „Aber sie sind schlecht für die Kreditkarte“, pariert Alex von gegenüber und hat die Lacher auf seiner Seite. Student Alex stammt aus Maaloula (JF 44/18), einem christlichen Bergdorf im Qalamun-Gebirge etwa 50 Kilometer nördlich von Damaskus. Seine Muttersprache ist Aramäisch, die Sprache Jesu. Ein Teil der Christen seines Ortes gehört der griechisch-orthodoxen Kirche von Antiochien an – die Berliner Gemeinde ist für ihn also ein Stück religiöse Heimat. „Wir sind schon immer Christen gewesen und wollen es bleiben, auch hier in Deutschland.“ Aus tiefdunklen Augen schaut er einen ernst an.

In unseren Breiten wenden sich jährlich Hunderttausende von der Kirche ab. Gibt es das Phänomen auch in Syrien? „Ja, schon, ein bißchen“, antwortet Bahjat. „Ich habe auch Bekannte in Kfarbou, die gehen gar nicht mehr zur Kirche. Warum, ist schwer zu sagen, sie wollen nicht reden. Aber das sind wenige.“

Zur Berliner St.-Georgios-Gemeinde scheint eine halbe Poliklinik zu gehören, denn auch Wardeh Nader ist studierte Ärztin, spezialisiert auf Hämatologie und Immunologie. In der Provinzstadt Hama betrieb sie vor dem Krieg ein Labor zusammen mit ihrem Mann, arbeitete auch im Krankenhaus. Die Mutter dreier Kinder lädt die JUNGE FREIHEIT zu sich nach Hause ein. Auf einer Kommode stehen zwei Ikonen, am Fenstergriff hängt ein Rosenkranz. Bei arabischem Mokka, Zitronenkuchen und Datteln zeigt die heute 57jährige Familienfotos von früher.

Seit fast fünf Jahren lebt die Familie in Deutschland. Aber die Gedanken weilen viel in der Heimat. An Heiligabend gibt es traditionell kräftige und fette Speisen und Rakia zum Trinken. „Alle Christen bei uns teilen Freuden und Sorgen! Wir haben ein gutes Verhältnis bei uns im Dorf, Orthodoxe, Katholiken, Evangelische, ganz egal!“ Ebenso mit der moslemischen Bevölkerung: „Als mein Bruder starb, kamen meine Freundinnen aus Hama und haben mitgetrauert, natürlich, selbstverständlich!“ Sie vermißt ihren Beruf sehr. „Ich habe alles verloren, meine Arbeit, mein Labor! Vor dem Krieg hatten wir ein glückliches Leben.“ In solchen Momenten wirkt sie überaus traurig. Hama ist eine schöne Stadt, ihr Wahrzeichen sind die riesigen antiken Wasserräder. Schon Jahrhunderte vor Christus schöpften sie Flußwasser in höhergelegene Aquädukte. Für die Aufnahme in Deutschland empfindet Frau Nader indessen große Dankbarkeit. „Danke, daß Deutschland die Grenzen geöffnet hat“ pflichten auch die Söhne Farah und Dschamil bei.

Auf dem Handy zeigt Farah Videos von der Einweihung des künstlichen Weihnachtsbaums in Kfarbou. Unter dem Jubel der Bevölkerung wird dort die Beleuchtung eingeschaltet, dann geht ein richtiges Feuerwerk los. „Vor dem Krieg haben wir nicht darüber nachgedacht, wer Christ ist und wer Moslem. Wir haben alles zusammen gemacht“, sagt Farah. Und heute, wie ist es da? Sein Bruder verzieht das Gesicht und macht eine abwiegelnde Handbewegung. Kein gutes Thema. Der Krieg hat viel zu viel kaputtgemacht.

Farah trägt einen Rosenkranz mit weichen Lederkugeln um das rechte Handgelenk, „zum Schutz“, wie er erklärt. In der Heimat hatte er bereits Wirtschaft studiert, in Berlin fand er nach einigen Anlaufschwierigkeiten eine feste Stelle in einer großen Lebensmitteleinzelhandelskette. „Acht bis 16 Uhr im Schichtdienst.“ Er ist eigentlich überqualifiziert, doch froh, niemandem zur Last zu fallen. Anders als seine Mutter geht Farah selten zur Kirche, „keine Zeit“, denn am Wochenende ist meist „Chillen“ angesagt. Über die Feiertage wird seine Schwester Schaghaf aus Freiburg zu Besuch kommen, sie ist 20 und studiert Pharmazeutik. Ihrer Mutter Stolz und Freude. „Bitte beten Sie für Frieden und Segen für Syrien!“ wird dem Mann von der Zeitung mitgegeben. Und: „Kommen Sie bitte an Weihnachten zu uns in die Gemeinde!“





Rum-orthodoxe Kirche

Die Antiochenisch-Orthodoxe Kirche führt ihre Gründung bis auf die Apostel Petrus und Paulus zurück. Nach der Apostelgeschichte war es in Antiochia (dem heutigen Antakya in der Südosttürkei), daß „die Jünger zuerst Christen genannt“ wurden (Apg. 11, 26). Der Patriarchensitz liegt seit dem 14. Jahrhundert in Damaskus. Die Antiochische Kirche wird auch rum-orthodox genannt: „Rum“ steht für arabisch Rom (gemeint ist Ost-Rom, also Konstantinopel). Erst seit den siebziger Jahren gibt es deutsche Gemeinden.