© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/19 / 20. Dezember 2019

Es lodert an allen Ecken
Südamerika: Ecuador, Bolivien, Kolumbien, Chile und Argentinien sind nur ein kleiner Teil der Sorgenkinder des lateinamerikanischen Kontinents

Ecuador

Ecuador erlebte im Oktober 2019 seine „Gelbwestenproteste“. Nach vierzig Jahren konstanter Subventionierung beendete die Regierung unter Lenín Moreno die Ära niedriger Benzin- und Dieselpreise in der Andenrepublik. Eine Änderung, die zu gewalttätigen Protesten der indigenen Landbevölkerung führte. Ihre Interessenvertreter geben an, besonders auf günstige Treibstoffpreise angewiesen zu sein, um weiter am Wirtschafts- und Sozialleben teilnehmen zu können. Die Regierung Moreno versprach als Abhilfe den Ausbau von öffentlichen Verkehrsmitteln.

 Die genaue Dynamik der Proteste im Land erschließt sich selbst aufmerksamen Beobachtern nicht so recht. Fest steht, daß hinter dem Protest auch ein Richtungsstreit zwischen zwei Parteifreunden steht. Expräsident Rafael Correa und sein Nachfolger gehören zwar derselben Partei an, stehen aber politisch an zwei entgegengesetzten Enden des politischen Spektrums. 

Der grollende Correa hat zwar in seiner zehnjährigen Amtszeit dem Land eine bisher ungekannte Stabilität und sozialen Ausgleich verschafft, hinterließ seinem Nachfolger aber auch leere Kassen und die höchste Staatsverschuldung der ecuadorianischen Geschichte. 

Der neue Präsident Moreno nahm die Annäherung an den internationalen Währungsfonds wieder auf und verfolgt seitdem eine Politik der wirtschaftlichen Konsolidierung. Die Streichung der Treibstoffsubventionen ist Teil derselben. 

Nach tagelangen Protesten mußte Moreno nachgeben, die Streichung der Subventionen ist seitdem vom Tisch. Der Konflikt in der ecuadorianischen Gesellschaft schwelt jedoch weiter. So mancher macht dafür auch den Gegensatz zweier Weltmächte mitverantwortlich. 

Correa fällte in seiner Amtszeit viele Entscheidungen zugunsten der Volksrepublik China, Moreno vertritt einen westlicheren Ansatz.





Bolivien

Bolivien steuert auf ein heißes 2020 zu. Nachdem in den vergangenen Monaten sowohl Vertreter der alten als auch der neuen Ordnung große Teile der Bevölkerung auf die Straße bringen konnten, stehen die Zeichen im Herzen des Kontinents auf Sturm. 

Die Frontlinien gehen dabei häufig einher mit den topographischen Höhenlinien. Im Hochland, dem sogenannten Altiplano, sind mehrheitlich lautstarke Anhänger des gestürzten Präsidenten Evo Morales zu finden. Im Tiefland rund um die Öl- und Rinderzuchtmetropole Santa Cruz finden sich die Anhänger der Übergangspräsidentin Jeanine Áñez. 

Die Anhängerschaft von Morales wirft der Übergangsregierung einen reaktionären Feldzug vor, tatsächlich stellt sich aber bei Präsidentin Áñez die Frage, wieviel Macht sie selber in den Händen hält. Bisher hat sie vor allem durch religiöse Symbolpolitik von sich reden gemacht. „Frühstück mit Pastoren aus Bolivien“, twitterte die Politikerin der liberalkonservative Partei Movimiento Demócrata Social und dankte für die „Gebete für ein besseres Bolivien.

Einheimische Journalisten vermuten die wirkliche Macht im Land bei den bewaffneten Kräften Militär und Polizei. Vor allem die Streitkräfte mühen sich um eine Stabilisierung der polarisierten Nation. In einem Land mit einer Vielzahl verschiedener Völker, Sprachen und Kulturen sind Fahne und Militär einer der wenigen Pfeiler nationaler Identität. 

Viel wird davon abhängen, wie die Wahlen im März oder April des nächsten Jahres ausgehen. Jede Unregelmäßigkeit könnte das Land zerreißen. 

Die Doppelstadt La Paz–El Alto ist dabei Gradmesser: Nirgends sonst auf dem Kontinent liegen zwei unterschiedliche politische Hochburgen so nah beieinander. Im progressiven, liberalen La Paz sind die Parteigänger der neuen, im armen und indigen geprägten El Alto die Verteidiger der alten Regierung zu finden.





Chile

Chile ist ein „ökonomisch ein Zombie“. Mit derart harten Worten kommentiert der chilenische Zeitungsverleger John Müller die Vorgänge in seinem Land nach den Massenprotesten im Oktober. Das Ausmaß der Zerstörungen in der Hauptstadt Santiago ist in der Tat verstörend. Über vierzig Metrostationen wurden ein Raub der Flammen. Wann das Nahverkehrssystem der Stadt sich von den zugefügten Schäden erholen wird, steht in den Sternen.

 Die Regierung Sebastián Piñera hat zwar zwischenzeitlich angekündigt, Milliarden in eine neue Sozialpolitik und Sicherheitspolitik zu investieren, um Anliegen der Demonstranten aufzunehmen. Doch nach Angaben des Wirtschaftsministeriums ist im Zuge des Demonstrationsmonats Oktober die Wirtschaftsleistung Chiles um 3,4 Prozent gesunken. 

Viele Klein- und mittelständische Unternehmen mußten infolge der Zerstörungen schließen oder wurden geplündert. Wo nun die Milliarden für die presidentiellen Zusagen herkommen sollen, bleibt unklar. 

Unklar bleibt auch weiterhin die Frage nach möglichen linksradikalen Untergrundstrukturen, die für die massiven Verwüstungen und koordinierten Angriffe auf Polizisten verantwortlich sein sollen. Auch die katholische Kirche wurde zum Ziel der Randalierer. Für Verleger Müller ist klar: „Wir sind jetzt genauso wie unsere Nachbarländer.“ Eine harte Landung für ein Land, das lange als Stabilitätsanker der Region galt. Piñera und seine Nachfolger werden das Kunststück vollbringen müssen, die aufstiegshungrige Mittelschicht wieder auf die Seite des Staates zu ziehen. Besonders bei Jungakademikern hat das selbstherrliche Auftreten des schwerreichen Piñera viel Vertrauen zerstört. Gelingt es ihm bis zu den nächsten Wahlen 2021, die bürgerlichen Teile des Protests zurückzuholen, könnte Chile seinen Abstieg auffangen. Andernfalls drohen dem Land lange und möglicherweise gewalttätige Verteilungskämpfe. 





Kolumbien

Vor drei Jahren standen alle Zeichen auf Entspannung. Die linke Farc und die kolumbianische Regierung waren handelseinig, endlich sollte kolumbienweit Frieden einkehren. Die Touristenströme schwollen an, Wirtschaft und Zivilgesellschaft waren voller Optimismus. Davon ist zur Jahreswende 2019 /20 nichts mehr zu spüren. Die rechte Regierung von Iván Duque, den viele als Marionette des schillernden Expräsidenten Álvaro Uribe Vélez bezeichnen, liegt im Clinch mit landesweiten Bürgerprotesten gegen seine Regierung. 

Diese werfen ihm vor, Korruption in Regierung und Sicherheitsapparat nicht streng genug zu verfolgen. Überdies hat Duque seinem krisengebeutelten Land einen strengen Austeritätskurs verordnet. Die Investitionen in Bildung und Sozialausgaben sollen zurückgehen, das Rentenalter hingegen steigen. Den mühsam ausgehandelten Friedensvertrag mit der Farc will er nicht unterstützen, und in Bogotá munkeln viele, daß seiner Regierung der Frieden ungelegen kommt, schließlich muß die neue Ausgangssperre in den größten Städten nun deutlich mühsamer begründet werden. 

Neben den Protesten gegen die Wirtschafts- und Bildungspolitik der Regierung wird das Land auch von Morden an indigenen Stammesführern erschüttert. Diese hatten nach dem Abzug der linken Rebellen erfolglos versucht, das Einsickern von Drogenkartellen zu verhindern.

 Die Farc hatte in den Neunzigern und frühen Zweitausendern fleißig an dem Geschäft partizipiert und hinterließ lukrative Anbauflächen. In der Folge stieg die produzierte Menge an Kokain in bisher ungeahnte Höhen. Experten der US-Regierung gehen von Rekordernten aus. 

Die größte Krise des Landes jedoch sind Hunderttausende venezolanische Wirtschaftsflüchtlinge, die sich im Land aufhalten. Die kolumbianische Bevölkerung hat diese bisher in bewundernswerter Ruhe toleriert.





Argentinien

Bei Monopoly-Spielern ist „Gehen sie zurück auf Los“ eine unbeliebte Karte. Der erwürftelte Fortschritt ist hinüber. Andererseits ergeben sich bei der zweiten Runde  vielleicht neue Möglichkeiten. 

Argentinien zog freiwillig diese Spielkarte bei der Wahl am 27. Oktober. Der wirtschaftsliberale Mauricio Macri hatte in der vorherigen Legislatur versucht, so viele Richtungsentscheidungen des Kirchnerismus ungeschehen zu machen, wie es ihm möglich war. Die Schwerindustrie wurde zugunsten der größten Exportindustrie des Landes, dem Agrarsektor, geschwächt, Staatsausgaben verringert und die Wirtschaft liberalisiert. 

Diesen Kurs der wirtschaftlichen Konsolidierung nach wirtschaftsliberalen Maßstäben honorierten im Ausland viele. Internationaler Währungsfonds und global tätige Finanz-institute bescheinigten der Regierung Macri, vieles richtig zu machen. Im Land selber konnte der Banker und Industriellensohn damit jedoch nicht punkten. 

Der katastrophale Absturz des  argentinischen Peso und die radikalen Kürzungen im Gesundheits- und Sozialsystem trafen viele Argentinier hart. Bis auf einige Krisengewinnler stehen die meisten Argentinier heute schlechter da als vor Macris Amtsantritt. Freilich, erkauft wurden die vergangenen Wohltaten des Kirchnerismus mit einer horrenden Staatsverschuldung und einem mehrfachen Staatsbankrott. Der Versuch, diesen Problemen mit einer Radikalkur beizukommen, ist nun gescheitert.

 „Der Kirchnerismus ist zurück” titelte die Tageszeitung El Mundo, sie hätte auch schreiben können: „Argentinien geht zurück auf Los.“ 

Neu ins Amt gekommen ist Alberto Ángel Fernández, dem viele vorwerfen nicht mehr als eine Marionette der Expräsidentin Cristina Fernández de Kirchner zu sein, schließlich hatte seine Karriere bereits als Minister unter ihrem verstorbenen Ehemann begonnen. Argentinien hat dem bekannten Elend den Vorzug vor dem radikalen Schnitt gegeben.