© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/19 / 20. Dezember 2019

„Unsere Gegenwart ist voller Effis“
Ungebrochene Aktualität: Theodor Fontanes Texte im Schulunterricht
Dirk Glaser

Von den Autoren des 19. Jahrhunderts ist Theodor Fontane im Schulunterricht des 21. Jahrhunderts derjenige, dessen Texte am häufigsten gelesen werden. Um dieses Phänomen  in der Sprache eines jungen Deutschlehrers zu beschreiben: „Fontane ist gut lesbar, auf alle Fälle. Dabei ist sicherlich bemerkenswert: Während im Zuge der Platzfreischaufelung für andere Lernbereiche (Digitales …) oder aufgrund modernerer Werke viele Klassiker das Feld räumen mußten, hat sich Fontane erhalten.“

Das Schwerpunktheft, das die Redaktion der Zeitschrift Praxis Deutsch (277/2019) zum 200. Geburtstag des „märkischen Wanderers“ herausgegeben hat, versucht zu erklären, warum das so ist, wofür das Werk des Autors heute im Schulkanon steht. Dabei ist das Interesse von Schülern wie Erwachsenen seit der in 1970ern einsetzenden Fontane-Renaissance eigentlich so stabil wie einseitig geblieben. Trotz der auch in diesem Heft wieder beschworenen Vielschichtigkeit und des „Polyperspektivismus“ seiner Romane ist nicht zu übersehen, wie die Beschäftigung auf zwei zumeist an „Effi Briest“ und einigen wenigen Balladen festgemachte Problemkomplexe zusammenschrumpft. 

Die allgemeinen didaktischen Ziele der Textlektüre, die den Deutschunterricht zum Ort „wertebezogener Sozialisation“, kritischer Aneignung von Denk- und Handlungsmustern machen sollen, kreisen heute um den „Genderdiskurs“ und – dies ist jedoch nicht neu – um den Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft, um Normativität und Normalität. Was sich am Wandel der gesellschaftlichen Frauenrolle anhand der „immer gleichen Texte“ (Balladen, Frau Jenny Treibel, Effi Briest, Unterm Birnbaum, Irrungen,Wirrungen) nun einmal am besten vermitteln lasse. 

Denn auf diesem Feld sei die Chance am größten, daß Schüler Selbstverständlichkeiten der eigenen Kultur hinterfragen. Sei doch „unsere Gegenwart voller Effis“, die noch „fremdbestimmt verheiratet“ würden wie Fontanes berühmteste Romanheldin. Dieser kühnen Aussage mag man aber vielleicht nur unter dem Vorbehalt zustimmen, daß sie eher für im türkisch-arabischen Kulturkreis wurzelnde Schülerinnen gilt.

Anders steht es mit dem in allen Kulturen virulenten und nahezu zeitlosen Normalitäts- und Konformitätsdruck, den Fontanes soziale Romankunst in Szene setze. Sicher münde die falsche Partnerwahl oder der „Seitensprung“ nicht mehr allzu häufig in tödliche Duelle oder Selbstmorde wie bei „Effi Briest“ und der erstmals 1882 in der Vossischen Zeitung veröffentlichten Erzählung „Schach von Wuthenow“. Aber junge Menschen stünden auch 2019 teils in der Familie, mehr noch in ihrer „Peergroup“ unter vergleichbar starkem Anpassungsdruck. Die „Demoralisierungsangst“ des Individuums, die Verunsicherung des einzelnen über den eigenen Normalitätsstatus – „dies ist kein Phänomen, das sich im 21. Jahrhundert erledigt hat, auch wenn die normativen Instanzen andere sein mögen“.

So können Fontanes scheinbar antiquierte, historisch ferngerückte Texte weiterhin dazu dienen, Schülerinnen und Schüler zu Reflexionen darüber anzuregen, wie abhängig sie bewußt und unbewußt von den Normen ihrer Zeit, Gruppe, Schicht, vor allem aber von ihrer medialen Kultur sind.