© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/19 / 20. Dezember 2019

Elementarteilchen kultureller Konflikte
Zwischen Wahrheit und Lüge: In dem Film „The Farewell“ prallen Identitäten aufeinander
Dietmar Mehrens

Wegen der Hochzeit eines Cousins reist die junge Billi Wang (phantastisch gespielt von der Sino-Amerikanerin Awkwafina, aktuell auch mit „Jumanji“ im Kino), die seit Jahren in den USA lebt, zurück in ihre Heimatstadt, die nordchinesische Metropole Changchun. Für Billi, die auf die Zusage für ein Stipendium wartet, um in Amerika den nächsten Karriereschritt zu machen, ist es vor allem ein Wiedersehen mit ihrer geliebten Großmutter, die sie, während sie in den Vereinigten Staaten aufwuchs, immer nur in den Ferien sehen konnte.

Doch der heitere Anlaß einer Familienfeier, zu der alle aus den verschiedensten Winkeln der Erde zusammenkommen – ein Onkel von Billi lebt in Japan –, wird getrübt, als herauskommt, daß Nai Nai (chinesisch für Oma) lebensbedrohlich an Krebs erkrankt ist. Chinesischen Gepflogenheiten gemäß wird dies zwar den Angehörigen eröffnet, nicht aber der Betroffenen selbst. „Die meisten Familien“, erklärt der behandelnde Arzt, der übrigens in London studiert hat, „entscheiden sich in diesen Fällen dafür, es zu verschweigen.“

Während Nai Nais Kinder von großer Sorge gepeinigt werden, hält sie selbst sich für fit wie ein Turnschuh und erteilt ihren Abkömmlingen sogar noch gönnerhaft Gesundheitstips, woraus sich eine Reihe von komischen Momenten ergibt. Aber es gibt auch Streit: darüber, ob es statthaft ist, der Großmutter die Wahrheit vorzuenthalten. Billi, die längst amerikanisch fühlt und denkt, findet die „gute Lüge“ unmoralisch. Ihr Vater Haiyan hält, seinem amerikanischen Paß zum Trotz, dagegen: „Ich muß mich der Familie beugen.“

Die spannende Frage ist nun: Wird der Kultur- und Generationenkonflikt zwischen Billi und dem Rest der Familie offen ausbrechen – oder obsiegt die Tradition?

Wangs Film ist ein aussagekräftiger künstlerischer Beitrag zum Zeitalter der Globalisierung und eignet sich bestens als Anschauungsmaterial in Kursen für interkulturelle Kommunikation. Er macht die Konflikte und Verwerfungen sichtbar, die eine zum globalen Dorf zusammengeschrumpfte Welt zwangsläufig mit sich bringt. Was ist kulturelle Identität? Was sind meine Wurzeln? Und wie sehr bestimmen sie, wer ich bin?

Bilder von großer poetischer Kraft

Die Frage, was universelle Prinzipien sind und was austauschbare Parameter, hat Lulu Wang, die hier als Autorin und Regisseurin vor allem eigene Erlebnisse verarbeitet, zu Elementarteilchen einer sehenswerten Kulturkonflikt-Komödie gemacht.

Aber ist „The Farewell“ eine Komödie? Schenkelklopfer wie in „My Big Fat Greek Wedding“ (2002), wo griechische und amerikanische Prägungen aufeinanderprallen, findet man in dem Film nicht. Der Humor ist subtiler. Und wer keine Ahnung von Asien hat, wird manchen Witz auch gar nicht verstehen. Dafür streut Wang in ihrem sonst visuell eher schmalbrüstigen Film Bilder von großer poetischer Kraft ein, etwa wenn sie ihre Billi zur Lola macht und wie einst Franka Potente in Tom Tykwers „Lola rennt“ (1998) durch die Stadt laufen läßt, um dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen.

„The Farewell“ bringt uns den fernen Osten näher – wie es sich für eine zusammenrückende Welt gehört. „In Asien ist jedes Ding Teil des Ganzen“, sagt Billis Onkel. Die Frage ist nur, was dieses Ganze ist: die ganze Welt, ganz Asien, ganz China oder am Ende doch nur die ganze Familie?