© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/19 / 20. Dezember 2019

Zwei Stiere mit gesenkten Hörnern
Publizistikgeschichte: Ein enger Weggefährte von Günter Zehm erinnert sich an ihre Freundschaft und den Bruch mit Pankraz
Thomas Kielinger

In London erfuhr ich vom Tode Günter Zehms wie durch eine Nebelwand der Krisen. Die britische Aktualität ließ sich nicht ausschalten, die Tagesagenda forderte ihren Tribut. So war Schweigen meine erste Reaktion. Ich vertiefte mich dafür in die Erinnerung an die letzte Begegnung mit Zehm, im Oktober 2018, im historischen Hotel Dreesen in Bad Godesberg. Dort feierte er mit drei Unentwegten Wiedersehen, seinen drei Mitarbeitern von Anfang der 1970er Jahre, mit denen er damals die Samstagbeilage der Welt, die „Geistige Welt“, auf die Beine stellte. Ich hatte mich ihm mit Arbeiten über Kafka und Ernst Jünger bekannt gemacht, Kläre Warnecke, die Musik-Kritikerin und Dankwart Guratzsch, später ein gesuchter Experte für Stadtplanung und Städtebau, vervollständigten das Quartett. Ich habe selten ein so bereicherndes Fluidum an geistigem Austausch erlebt. Zehm war der Vulkan – er spie Ideen und Aufgeregtheiten in gleichem Maße.

Ich begleitete ihn am Ende unseres nostalgischen Abends auf der Fahrt in seine Godesberger Wohnung, wir unterhielten uns auch über das, worüber er, der 85jährige Philosoph, noch gerne würde schreiben wollen, mehr in Form eines längeren Essays, wie er sagte – über Glaube und Wissen, das metaphysische Thema par excellence. Er wisse aber nicht, ob die Kraft dafür noch reiche, auch sein Augenlicht mache ihm zunehmend zu schaffen. Glaube und Wissen – seine Gedanken über diese Kernfrage werden wir nun nicht mehr erfahren, doch tröstet mich der Gedanke, daß ihm im Jenseits geradezu die Epiphanie von einer Antwort geschenkt worden ist. Als Philosoph an der Universität Jena konnte Zehm mit seinem Temperament den Horizont unserer Existenz erhellen – auf die letzten Anworten müssen wir alle warten. Jedenfalls gingen der „Pankraz“-Kolumne bei einem solchen Kopf die Sujets nie aus.

Kampagne gegen den Springer-Verlag

Pankraz? Meinen Teil bei der Genese dieses Namens muß ich jetzt doch erläutern. Ich war im Februar 1971 in die Welt-Redaktion eingetreten, in Zehms Ressort. Die Kampagne gegen den Springer-Verlag erlebte damals neue Höhepunkte, unter meinem Fenster im Hamburger Welt-Haus skandierten die Protestierer ihre rhythmischen Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufe, oder „Haut dem Springer auf die Finger“ und ähnliche Verwünschungen mehr. Ich hielt das Ganze naiverweise für die sterbenden Exzesse der 68er, einer Generation, für die ich als 1940 in Danzig Geborener schon zu alt war. Bis ich auf der jährlichen Frankfurter Buchmesse, die ich als Literaturkritiker für die Welt besuchte, eines Schlechteren belehrt wurde. Es herrschte Bürgerkrieg, geistiger: Sobald ich bei diversen Terminen meine Visitenkarte zeigte, gingen die Türen automatisch zu. Kollektivhaftung eines Feuilletonredakteurs der Welt. Die Brücken waren abgebrochen. Das hatte mit Kultur nichts mehr zu tun.

Das Klima der Diskriminierung stieß mich ab, ich hatte vier Jahre in Großbritannien gelebt, im walisischen Cardiff, als Lektor für Deutsch am German Department der dortigen Universität, und trug mich mit dem Gedanken, auf die Insel zurückzukehren, um dem Ungeist in Deutschland zu entfliehen, den Kämpfen zwischen Links und Rechts, dieser nationalen Sackgasse.

Zehm ging auf den „Pankraz“-Vorschlag ein

Dann ging die Boykott-Keule auf die Welt nieder, und zwar endgültig, nach verschiedenen Boykott-Versuchen in den späten sechziger Jahren: Der Suhrkamp-Verlag drohte seinen Autoren mit dem Verlust ihrer Verträge, wenn sie weiterhin in der Welt der Literatur, die seit 1964 in schmuckem Tabloid-Format erschienen war, publizierten. Jost Nolte, der letzte Literatur-Chef, mußte schweren Herzens Anfang 1973 das Erscheinen dieser Beilage einstellen: Viele der bisherigen Mitarbeiter wollten ihre Hausverträge mit dem Frankfurter Verlag nicht riskieren, sie gingen uns über Nacht verloren. Ich erinnere mich an einige betretene Briefe von Autoren an die Redaktion, um Verständnis bittend für die heikle Lage, in die sie sich versetzt sahen. Ein No-win-Spiel für alle Seiten.

Ich selber hatte im Jahr davor bereits Reißaus genommen, zwar nicht nach England, sondern in die Reportage-Redaktion, aus der heraus ich in das kampfverzerrte kulturelle Geschehen nicht mehr direkt involviert war. Der Kontakt mit Zehm aber blieb erhalten, und eines Tages – es war Frühjahr 1975, die Welt war gerade von Hamburg nach Bonn umgezogen – bat er seine alten Freunde, ihm Titelvorschläge zu machen für eine Kolumne, die er zu schreiben beabsichtigte. Wir waren Feuer und Flamme für die Idee.

Meine Anregung entnahm ich Gottfried Kellers Novellen-Sammlung „Die Leute von Seldwyla“, deren erstes Stück bekanntlich „Pankraz, der Schmoller“ heißt. Ich wußte, wie Zehm mit dem jahrelangen Aufruhr um uns herum gerungen hatte, oft der Angegriffene – und der Angreifer – gewesen war, auch in mir selber steckte ein Schmoller, den die deutsche Gegenwart auf die Palme treiben konnte. Gemacht, getan – Zehm ging auf meinen Vorschlag ein, und „Pankraz“ trat seine Kolumnen-Karriere an, ein ideales Exerzierfeld für den Enzyklopädisten, der dieser Mann war.

Mich selber verschlug es bald, 1977, als Welt-Korrespondent in die USA. In dieser Zeit wurde der Wechsel von Jimmy Carter zu Ronald Reagan, 1980, für alle Welt ein Lernerlebnis erster Ordnung: Amerika fand von der Unschärfe Carters zurück zu einer klaren Linie und nahm die Herausforderung des „Evil Empire“, wie Reagan die Sowjetunion nannte, voll an. Die deutsche Friedensbewegung allerdings glaubte es besser zu wissen, unterstellte Ronald Reagan ein Spielen mit dem Dritten Weltkrieg und rebellierte gegen die Nato-Nachrüstung wie gegen einen wahren Gottseibeiuns. Daß es ohne den amerikanischen Schutz keine europäische Stabilität geben könnte, war in den Anti-Amerika-Köpfen nicht unterzubringen; der Haß auf Reagan überspülte alle Deiche.

Mit diesen Erfahrungen im Gepäck kehrte ich nach acht Jahren zur Bonner Welt-Zentrale zurück, als Leiter des Parlamentsbüros. Der Absprung aus der amerikanischen Weite in die rheinische Welt des Klüngels, der sich auch in Teilen der Redaktion eingeschlichen hatte, mißlang freilich. Ich war dermaßen unglücklich über die verlorene Freiheit des Auslaufs, daß ich acht Monate später kündigte; dabei hatte ich selber um Rückversetzung gebeten, aus Sorge, ich könnte in den USA zu stark amerikanisieren und die Nabelschnur zu Europa verlieren. Eine neue Perspektive öffnete sich, als die Wochenzeitung Rheinischer Merkur mir 1985 die Chefredaktion anbot. 

Erneut trat Günter Zehm in mein Leben, Freunde, die wir geblieben waren. Die Welt und er hatten sich 1989 im Unfrieden getrennt, und ich griff mit beiden Händen zu, als er mich fragte, ob ich den „Pankraz“, „meine“ Erfindung von vor 14 Jahren, im Rheinischen Merkur erscheinen lassen wolle. Keine Frage: Wir wurden uns sofort handelseinig, solche Chancen bieten sich nicht alle Tage.

Dann kam es im Sommer 1994 zu einem ernsten – überhaupt dem ersten – Störfall in unserer Beziehung. Es ging um eine Kolumne zum fünfzigsten Jahrestag des D-Day. Darin nahm Zehm die damaligen Gedenkfeierlichkeiten an der Kanalküste aufs Korn, mit Nietzsches Argumenten über die „Veteranenfalle“. „Der Held“, so zitierte er den „Zarathustra“, „wird zum Veteranen, zu einer mit Medaillen und Kreuzen behängten, von längst verflossenen Ereignissen brabbelnden Feierabendfigur.“ Ich war perplex: Kann man von Überlebenden dieses mörderischen Krieges, in dem Abertausende ihr Leben für die Befreiung Europas vom NS-Joch hingaben, so sprechen?

Gewiß, Kolumnen müssen manchmal zu ihrer Wirksamkeit überzeichnen, aber je weiter ich las, desto mehr Gift und Galle schien mir entgegenzutreten: „Auch die Helden des ‘D-Day’ nebst ‘Onkel Jo’, dem Moskauer Verbündeten, haben sich bei der Ausgestaltung des Sieges in den anschließenden Jahrzehnten bekanntlich nicht mit Ruhm bekleckert, haben Millionen von Kriegsgefangenen zu Tode gehungert, Zehntausende von Frauen vergewaltigt, haben schließlich die halbe Welt in ein einziges, über vierzig Jahre lang betriebenes Dauer-KZ verwandelt.“

Meine Empörung riß mich zu einer grotesken Fehlentscheidung hin – man soll eben nie aus dem Affekt heraus handeln: Statt diesen „Pankraz“ einmal ruhen zu lassen und mich mit dem Autor sofort darüber zu unterhalten, warum – wie ich ihm später schrieb – die zitierten Zeilen für mich eine „Anstößigkeit“ darstellten, „mit der ‘Pankraz’ leben mag, nicht aber der Rheinische Merkur“, rückte ich als Erklärung für die nicht gedruckte Kolumne die Zeile ein: „Pankraz ist verreist.“

Ich folgte damit der Usance der britischen Presse, die bei Ausfall einer erwarteten Kolumne in der Regel als Entschuldigung anbringt, „Der Autor fehlt in dieser Woche wegen Krankheit“, „Er ist verreist“ oder ähnliches. Wenn das einmal nicht zutrifft und interner Dissens eine Rolle spielt, möchte man den auf keinen Fall an die große Glocke hängen; dann ist die Entschuldigung natürlich fingiert.

Diese Fiktion, diese Lüge muß Zehm aufs höchste erregt haben. Er fühlte sich verhöhnt. So ging der Hammer „Zensur“ auf mich nieder; sein Abschied vom Rheinischen Merkur war Ehrensache für ihn. Dabei hätte ich ihm leicht erläutern können, warum – auch das schrieb ich ihm später – der „offensichtliche Extremismus“ der genannten Zeilen mich „an dem Zehm, den ich zu kennen glaubte, hatte irre werden lassen“: einen Menschen von ungeheurer Liebe zur Freiheit, wie sie ihm in drei Gefängnisjahren in der DDR geraubt worden war. Warum kein Wort über Freiheit und Befreiung am D-Day? Warum statt dessen diese pauschale Vermengung der Alliierten mit den Verbrechen Stalins? Ich hatte solches bei dem immer luziden Pankraz, den ich schließlich von der Welt zum Rheinischen  Merkur geholt hatte, noch nicht erlebt. Sollte auch er vom anti-amerikanischen Bazillus befallen sein? Der Schmoller war plötzlich ich, und das ähnlich entschieden wie der Autor selber. Zwei Stiere mit gesenkten Hörnern, dabei von vergleichbarem Ansporn getrieben.

25 Jahre später komme ich zu dem Schluß, an Zehms Stelle hätte ich wahrscheinlich ähnlich gehandelt, hier schlossen sich zwei Prinzipien gegenseitig aus: die Freiheit des Chefredakteurs, Einspruch zu erheben gegen einen bestimmten Text, und die vertraglich gesicherte Freiheit des Kolumnisten. Es muß wohl manchmal im Leben zu solchen Explosionen kommen. Wie schreibt doch Theodor Storm in seinem Gedicht „An meine Söhne“? „Blüte edelsten Gemütes / Ist die Rücksicht; doch zuzeiten / Sind erfrischend wie Gewitter / Goldne Rücksichtslosigkeiten.“ Das schließt aber nicht das Recht auf Notlügen ein, wie „Der Autor ist verreist“. Mea culpa.

Die kurzzeitige Verstimmung spielte keine Rolle mehr

Die Unausweichlichkeit des Konflikts zwischen zwei alten Bekannten muß wohl auch dem Philosophen in Zehm später aufgegangen sein, denn die kurzzeitige Verstimmung tat unserer Freundschaft in den Jahren danach keinen Abbruch. Ich hörte oft von seinen Jenenser Vorlesungen und Colloquien über Nietzsche und andere Ikonen der Philosophiegeschichte und verfolgte mit Staunen die steigende Zahl seiner Publikationen, auch den „Pankraz“. Der Bruch von anno 1994 spielte zwischen uns in der Tat keine Rolle mehr. Irgendwie muß wohl auch die List der Vernunft im Spiel gewesen sein, denn der Rheinische Merkur stellte 2000 sein Erscheinen ein, was für Pankraz eine erneute Wanderschaft bedeutet hätte, vor der ihn die JUNGE FREIHEIT – und meine „Rücksichtslosigkeit“, Gott sei’s geklagt – rechtzeitig bewahrten.

Henry Kardinal Newman, den der Papst unlängst in den Stand eines Heiligen der Katholischen Kirche erhob, schrieb einmal an einen Freund zur Erläuterung seiner 1864 erschienenen Autobiographie „Apologia pro vita sua“: „Nehmen Sie den Fluß, der seinen Lauf zuweilen ändern muß, um derselbe zu bleiben – in einer höheren Welt mag es nicht so zugehen, doch hier unten heißt leben sich ändern, und vollendet zu sein, heißt, sich oft geändert zu haben.“

Für „Pankraz“ war die Mündung in die junge freiheit wie die Heimkehr des Flusses ins Meer seiner Bestimmung.






Thomas Kielinger, Jahrgang 1940, lebt seit 1998 in London und schreibt Bücher zur englischen Geschichte. Nach einer Lebensbeschreibung Winston Churchills legte er in diesem Jahr die Biographie der Tudor-Monarchin vor: „Die Königin. Elisabeth I. und der Kampf um England“ (C. H. Beck, München)



Ende November erreichte uns ein überraschender Anruf aus London: Am Telefon war Thomas Kielinger, langjähriger Feuilletonredakteur sowie USA- und Großbritannien-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt. Er hatte erst verspätet vom Tod seines einstigen Kollegen Günter Zehm erfahren, wollte nun aber gern einige Adnoten zu Pankraz „dem Vergessen entreißen“. Pikant daran: Als zwischenzeitlicher Chef des Rheinischen Merkur hatte Kielinger im Juni 1994 eine Pankraz-Kolumne nicht gedruckt, was zu einem Bruch zwischen den beiden langjährigen Freunden führte. Der Text erschien eine Woche später in der JUNGEN FREIHEIT, und von Januar 1995 bis zu seinem Tod am 1. November dieses Jahres veröffentlichte Günter Zehm seine Kolumne fast ein Vierteljahrhundert lang in dieser Zeitung.

In dem exklusiven Beitrag hier berichtet Thomas Kielinger zum ersten Mal über die Urzündung von „Pankraz“ in der Welt und erzählt den Hergang, wie es 1994 zur Trennung zwischen dem Rheinischen Merkur und Zehm kam. (tha)