© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

Wir hatten die Nase voll
Politische Gängelung, Ausgrenzung und Staatsnähe: Zwei Frauen erzählen, warum sie ihrer Kirche den Rücken gekehrt haben
Martina Meckelein

Ein Interview im Amtsgericht in Spandau sei leider nicht möglich, bedauert der Amtsrichter. „Bitte haben Sie dafür Verständnis“, sagt er. Eigentlich geht es nur darum, Menschen nach ihren Gründen zu befragen, warum sie „aus einer steuerberechtigten Religionsgemeinschaft öffentlichen Rechts“, so nennt man Kirchen im Amtsdeutsch, austreten wollen. Und diesen Austritt kann man nur persönlich beim Standesamt oder auf dem Amtsgericht beurkunden. Kostenpunkt 30 Euro. Natürlich wäre auch ein Notar möglich, da fallen dann aber noch zusätzliche Gebühren an.

Nichts liegt also näher, als eine Recherche zu Kirchenaustritten auf dem Flur eines Amtsgerichts zu beginnen. „Die Betroffenen könnten sich unter Druck gesetzt fühlen, etwas zu sagen, da sie ja in den Amtsräumen stattfindet“, sagt der Richter freundlich lächelnd. Dieser Situation wolle er niemanden aussetzen.

Schade. Die Internetseite Kirchenaustritt.de hat 2018 eine Umfrage über die Gründe für den Kirchenaustritt durchgeführt. 44,2 Prozent gaben als Motivation die Kirchensteuer an, 34,4 Prozent die Unzufriedenheit mit der Institution Kirche, 16,4 Prozent glaubten nicht mehr an Gott, zwei Prozent glaubten jetzt an einen anderen Gott oder Götter, drei Prozent gaben andere Gründe an. An der Online-Umfrage nahmen 56.953 Personen teil.

Auch Maria Arlt (54) war auf solch einem Amtsgerichtsflur. Das war Anfang Oktober 2017. Damals trat die vierfache Mutter aus der evangelischen Kirche aus. Nein, die obengenannten Gründe waren für sie nicht ausschlaggebend. Es ist der Umgang mit Menschen durch das System, das sie von innen sehr genau kennt: „Die evangelische Kirche läßt ihre eigenen Leute im Stich. Das werfe ich ihr vor.“

Das Büro der AfD-Landesgeschäftsstelle in Berlin. Hier arbeitet Maria Arlt seit ihrem Kirchenaustritt. Sie hat Kaffee gekocht, sie lacht gern, und immer, wenn sie sich darauf konzentriert, Dinge exakt zu erklären, streicht sie sich ihre weißen Haarsträhnen hinter die Ohren.

„Glaube ist für mich sehr wichtig, er macht einen großen Teil meines Lebens aus.“ Wie paßt das zu ihrem Kirchenaustritt? Arlt hat, wie so viele Christen in der DDR, ganz persönlich über Jahrzehnte Einbußen durch das SED-System auf sich genommen. „Ich wurde schon als Baby getauft, bin christlich sozialisiert in der DDR“, sagt die Religionslehrerin, die in Parchim in Mecklenburg-Vorpommern geboren wurde. „Es gab auf uns Christen Druck ohne Ende seitens der SED“, erinnert sie sich. „Mein Christsein war ein starkes Bekenntnis dagegen, das hat mein Leben geprägt.“ Arlt war eine gute Schülerin. „Meine Lehrerin sagte irgendwann zu mir: Maria, du hast alle Voraussetzungen für das Abitur, aber du mußt aus der Kirche austreten.“ Das junge Mädchen weigerte sich – ihm blieb nur der Weg zur Facharbeiterin für Schreibtechnik. „Wir lernten dazu sozialistische Ökonomie, sozialistisches Recht und Polit-Ökonomie, die geballte Rotlichtbestrahlung.“

„Mein Chef sagte, treten  Sie doch in die SPD ein“

Maria Arlt sagt, daß sie im Leben immer einen Plan B hatte – der hieß in ihrem Fall: Abendschule nach einem zehnstündigen Arbeitstag, dann Abitur. „Anschließend absolvierte ich eine Ausbildung zur Katechetin und Gemeindehelferin, die ich 1988 abschloß.“ Ihr Anerkennungsjahr absolvierte sie in Jena, im Sommer 1989 heiratete sie. „Mein Mann machte sein Vikariat in der Herrnhuter Brüdergemeine. Unsere Tochter kam zur Welt – alles war schick, ich war zufrieden.“ Aber nach der Wende übernahm die evangelische Kirche viele Pastoren nicht in ein festes Arbeitsverhältnis. „Die Generation, die während der Wende studierte, bekam selten einen Job“, sagt Arlt. Ihr Mann sattelte um, arbeitete wieder als Elektriker. Rückblickend kann sie die Nichtübernahmen verstehen. „Es war ja nicht klar, wie viele Gemeinden bestehen bleiben würden und wieviel Geld die Kirche noch übrig hätte.“

Wie sich 30 Jahre später rausstellt, nagen die Kirchen nicht am Hungertuch. Hier erhebt der Staat die Kirchensteuer, im deutschsprachigen Raum machen das sonst nur noch die Eidgenossen. Das Finanzamt treibt sie ein und läßt sich diesen Service von den Kirchen bezahlen.

Von den rund 12,4 Milliarden Euro 2018 erhielt die katholische Kirche 6,6 Milliarden und die evangelische 5,8 Milliarden Euro, berichtet das katholische Online-Magazin „Kirche + Leben Netz“. „Im Vergleich zu den insgesamt 12,1 Milliarden Euro 2017 ist das ein Anstieg um rund 2,7 Prozent.“ Dagegen sinken die Mitgliederzahlen durch aktiven Austritt und Sterbefälle in beiden Kirchen. Evangelisch.de berichtet, daß evangelische und katholische Kirche in Deutschland 2018 noch mehr Mitglieder als bereits 2017 verloren haben. So ging die Zahl der Protestanten um etwa 395.000 auf 21,1 Millionen zurück, die Zahl der Katholiken sank um knapp 309.000 auf 23 Millionen. „Der Verlust summiert sich auf rund 704.000 Mitglieder. Im Jahr 2017 waren es noch knapp 660.000.“ Die steigenden Einnahmen trotz sinkender Mitglieder erklärt „Kirche + Leben“ mit der guten Konjunktur.

Maria Arlt wechselte nach der Wende den Beruf und wurde Religionslehrerin in Berlin. Bis 2009 arbeitet Arlt halbtags, dann hatte sie die Nase voll. 2010 begann sie im Kirchenkreis Lichtenberg-Oberspree als Sekretärin des Superintendenten zu arbeiten. „Sieben gute Jahre“, sagt Arlt. Sie engagiert sich in der Flüchtlingshilfe, nahm drei Syrer bei sich auf, einer wohnt bis heute in ihrem Haus. „Dann bin ich 2014 in die AfD eingetreten. Irgendwann las ich einen Artikel in der Kirchenzeitung. Da wurde die Frage gestellt, ob man als Christ AfD wählen könne. Ich dachte mir, da darf ich nicht schweigen und schrieb einen Brief an die Redakteurin, der später mit meiner Zustimmung als Leserbrief veröffentlicht wurde. Zuvor hatte ich natürlich den Superintendenten informiert. Ich war erstaunt, daß ich von Lesern daraufhin Fanpost ins Büro bekam.“

Als dann in Marzahn-Hellersdorf die BVV-Wahl anstand, baten Parteikollegen Arlt, zu kandidieren. „Ich war nicht scharf drauf, aber ich dachte, ich komm da eh nicht rein, hatte Listenplatz 18.“ Ein Irrtum, die AfD gewann 15 Mandate, Arlt wurde als Mitglied der zweitstärksten Fraktion zur Schriftführerin in den BVV-Vorstand gewählt.

Was folgte, hatte Arlt so ähnlich schon einmal erlebt, allerdings über 40 Jahre zuvor. „Der Kreiskirchenrat lud mich zum Personalgespräch vor. Da saßen zwei Theologen, der Präses der Kreissynode und eine ältere Dame aus dem Kreiskirchenrat. Ich hätte mir einen Beistand von der Mitarbeitervertretung nehmen können. Das wollte ich nicht. Die fragten mich, wie ich als Christ in einer Partei sein könnte, die für die Wiedereinführung der Wehrpflicht sei? Die wollten von mir den Parteiaustritt. Mein Chef sagte zu mir, treten Sie doch in die SPD ein.

Ich ahnte, daß ich mit meiner Parteimitgliedschaft nicht weiter in der Kirche arbeiten konnte. Ich sagte mir: Jetzt machst du hier deinen Abgang.“ Zum Amtsgericht, direkt nach ihrer Kündigung, begleiteten sie ihr Mann und zwei ihrer Kinder – alle traten gemeinsam aus.

„Hier geht es nur noch um Ausgrenzung der Kritiker“

Antje S. (50) ließ sich erst mit 17 Jahren in der evangelischen Kirche taufen – das war 1987. „Ich tat das mit vollem Bewußtsein, ich wußte ja, was mir droht“, sagt die Mutter einer inzwischen erwachsenen Tochter. Sie hatte damals ein Lehramtsstudium begonnen – in Ost-Berlin. S. bezeichnet sich als Menschen, der „selten spontan ist“, aber wenn er sich für eine Sache entschieden hat, sich dann auch gebunden fühlt. Nach der Wende absolvierte sie ein Verwaltungsstudium an der Fachhochschule, arbeitete 25 Jahre im Sozialamt und im Jobcenter, „direkt an der Front“, sagt sie. Heute ist sie Regierungsoberinspektorin im Bundespolizeipräsidium in Berlin. Am 1. April dieses Jahres trat sie aus der evangelischen Kirche aus. „Es ist kein leichter Schritt gewesen, Kirchenmitgliedschaft ist doch eigentlich etwas fürs ganze Leben.“

Wir treffen uns in einer Berliner Pizzeria. „Wissen Sie, meine Generation hat sich am Staat gerieben. Die Junge Gemeinde, dort engagierte ich mich, war der Ort der gesammelten Opposition im Staat. Alles traf sich dort. Klar wußten wir, daß sich auch Stasi untergemischt hatte, aber dieses Risiko nahmen wir auf uns.“ S. engagierte sich früh im Kirchenorchester, tut das bis heute.

Doch heute sieht S. die gesamtdeutsche Kirche nach der Wiedervereinigung völlig anders, sie ist kein Ort der Reibung, der Opposition, des Austausches: „Die Kirche ist die Unterstützung der Mächtigen geworden und in großen Teilen bürgerfern.“ Einwanderung und der Umgang damit sind Themen, die S. beruflich beschäftigen. Um so mehr ist sie von der Haltung der Kirche dazu enttäuscht: „Hier geht es nur noch um die Ausgrenzung der Kritiker dieser Politik, die uns doch auch bis in unser privates Leben betrifft. Die Kirche sollte nicht ausschließen, doch sie tut das Gegenteil. Wenn ich von Christenverfolgung höre, höre ich kein kritisches Wort seitens der Kirche. Wo bleibt die Unterstützung unserer Glaubensbrüder und -schwestern?“

Es sind Worte der Enttäuschung. „Ich konnte lange Jahre die Institution und den Glauben nicht voneinander trennen. Anfang des Jahres habe ich dann den Schritt für mich ganz allein getan. Doch wenn ich heute zum Beispiel Bedford-Strohm höre – bei jeder seiner Aussagen im Fernsehen oder im Radio sage ich mir: Du hast alles richtig gemacht mit deinem Kirchenaustritt.“

S. bekam vor kurzem vom Superintendenten des evangelischen Kirchenkreises Lichtenberg-Oberspree einen Brief. Der bedauere ihren Austritt und wolle nach der Motivation dafür fragen. Dabei läßt es der Superintendent nicht unerwähnt, daß S.’ Kirchensteuern und Spenden dabei geholfen hätten, Gottes Wort zu verkünden.

Maria Arlt kennt diese Briefe aus ihrer langjährigen Kirchenarbeit. „Die werden von einer Agentur verschickt. Die Gründe des Austritts interessieren meines Erachtens niemanden.“

Der katholische Pfarrer Guido Rodheudt von St. Gertrud aus Herzogenrath verschickt solche Briefe nicht. „Aufwand und Effizienz stehen in keinem Verhältnis. Ich halte viel von Seelsorge mit persönlichem Austausch.“ Es zeige sich, daß dort, wo jemand einen persönlichen Kontakt zu einem Pfarrer gehabt habe – egal ob bei Freud oder Leid –, so schnell nicht ausgetreten werde. Das Christentum vermittle sich seit der Zeit der Apostel von Herz zu Herz und nicht durch anonyme Propaganda.

„In 30 Jahren meiner Tätigkeit hatte ich nicht einen Kirchenaustritt, der sich angekündigt hätte. Was auf meinem Schreibtisch dann landet, sind Überraschungsbomben.“  Rodheudt würde es vorziehen, wenn der Kirchenaustritt in der Pfarrei unterschrieben würde. Dann wüßte man, weshalb der Betreffende austritt. „Will er nur Geld sparen? Hat er sich über das ‘Bodenpersonal’ geärgert? Oder will er sich vom christlichen Glauben lossagen?“

Der Pfarrer macht noch auf einen ganz anderen Punkt aufmerksam: Durch den Kirchenaustritt wird ein Katholik in Deutschland exkommuniziert, also aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Exkommunizierten ist es verboten, die Sakramente wie Kommunion, Beichte oder Krankensalbung zu empfangen. Und zwar weil die deutsche Teilkirche im Gegensatz zum allgemeinen internationalen Kirchenrecht einen Austritt per se als Glaubensabfall wertet. „Papst Benedikt XVI. war es, der darauf hingewiesen hat, daß eine solche Deutung keine Berechtigung besitzt. Die deutschen Bischöfe haben dann sehr schnell – wohl mit Blick auf die drohenden finanziellen Einbußen – ein deutsches Sonderrecht erwirkt.“ Jemand, der beispielsweise mit dem „oft lehramtsfeindlichen Kurs der Amtskirche“ nicht einverstanden ist – „wie es zum Beispiel viele am derzeitigen Synodalen Weg sehen“ – und seine finanziellen Zwangsabgaben verweigern wolle, um sie statt dessen an ein Kloster oder ein karitatives Projekt zu spenden, werde mit Exkommunikation bedroht, so Rodheudt: ein „kurioser bis skandalöser Umstand“.