© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

„Jeder hat genug und ist müde“
Ukraine-Konflikt: Präsident Selenskyj hat sich weit aus dem Fenster gelehnt, nun muß er liefern
Josef Mathias Roth

Anfang Dezember trafen sich die Staatschefs Rußlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs in Paris, um über Wege zum Frieden in der Ostukraine zu sprechen. Es gab Fortschritte, aber keinen Durchbruch. Doch der Frieden hängt vor allem vom Erfolg oder Mißerfolg des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ab. Im Osten der Ukraine stehen sich weiter die ukrainische Armee und Truppen der Separatisten gegenüber. Zwar hat die Intensität der Kämpfe in den vergangenen zwei Jahren nachgelassen, doch fast jede Woche sterben an der Frontlinie weiter Menschen. 

Selenskyj hatte im Wahlkampf versprochen, möglichst bald eine Friedenslösung in der Ostukraine zu erreichen. Er sagte damals: „Jeder hat genug von diesem Konflikt und ist müde.“ Schon in den vergangenen Monaten wurden an einigen Frontabschnitten die Truppen zurückgezogen. In Paris wurde vereinbart, daß an drei weiteren Teilen der Gefechtslinie die gegnerischen Einheiten zurückgezogen werden. 

Weit schwieriger sind die im Minsker Verhandlungsprozeß vorgesehenen Lokalwahlen in den Separatistengebieten durchzuführen. Diese stoßen vor allem auf den Widerstand der Opposition in Kiew. Sie will den Separatisten in der Ostukraine keinen Autonomiestatus zugestehen und setzt Präsident Selenskyj dabei unter Druck. Nicht zufällig betonte dieser in Paris: „Die Ukraine kann kein föderaler Staat werden“.

Allerdings besteht Moskau auf einem Sonderstatus für die Gebiete der Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Rußland unterstützt die Separatistengebiete wirtschaftlich und auch militärisch. Zwar hat Moskau nicht direkt in der Ostukraine interveniert, allerdings kämpfen russische „Freiwillige“ in den Verbänden der beiden Volksrepubliken mit. Ohne russische Hilfslieferungen wäre die Versorgung in der Ostukraine vermutlich schon zusammengebrochen, insbesondere seitdem die Ukraine einen Wirtschaftsboykott gegen die abtrünnigen Gebiete verhängt hat. 

Rentner sind Leidtragende der Teilung des Landes 

Doch es gibt weiter soziale und wirtschaftliche Kontakte zwischen der Ukraine und den beiden Volksrepubliken. So beziehen viele Rentner in den Separatistenregionen ukrainische Renten. Diese können sie allerdings nicht in den Volksrepubliken erhalten, sondern sie müssen dazu in die Ukraine fahren. Dies führt regelmäßig zu chaotischen Zuständen an den Grenzübergängen. Vielen Rentnern werden die Renten aufgrund bürokratischer Hindernisse gar nicht ausgezahlt. Und junge Menschen sind gezwungen in der Ukraine oder im Ausland zu studieren, da Diplome der Universitäten aus den international nicht anerkannten Volksrepubliken keinen Wert haben. 

Die Führer der beiden Gebiete sind von Rußland abhängig, doch es gibt Konflikte um die politische Ausrichtung. Im Juli 2018 wurde der Führer der Volksrepublik Donezk, Alexander Sachartschenko, bei einem Bombenattentat getötet. Die Mörder wurden nicht gefaßt, und es ist unklar, wer dahinter steckt. Sein Nachfolger Denis Puschilin tritt nicht in Militäruniform auf wie Sachartschenko, sondern im Anzug und gibt sich wesentlich gemäßigter.

Offensichtlich finden bei Putin radikale Kräfte, die die Volksrepubliken ganz von der Ukraine abspalten wollen, keine Unterstützung mehr. Rußland will keine Annexion der Ostukraine, denn es wäre sehr teuer, das wirtschaftlich marode Gebiet des Donbass einzugliedern. Auch eine Unabhängigkeit der Volksrepubliken sieht Moskau skeptisch. Statt dessen bevorzugt man Donezk und Lugansk als Gebiete mit Sonderstatus in einer föderalisierten Ukraine. 

Da es in der Ostukraine große Widerstände gegen eine enge Anbindung an den Westen gibt, würde dadurch der Widerstand gegen die Europäische Union und die Nato in der Ukraine wachsen. Auf diesem Wege wäre es eher möglich, eine Integration der Ukraine in den Westen zu verhindern. Ob es zu einer Friedenslösung kommt, hängt auch ganz entscheidend davon ab, ob sich Selenskyj mit seinem stärker auf Kompromiß bedachten Kurs durchsetzen kann. Im wirtschaftlichen Bereich hat er seinem Land einen radikalen Modernisierungskurs verordnet. 

Absolute Mehrheit läßt Opposition ins Leere laufen  

So sollen in den kommenden Jahren über eintausend Staatsunternehmen privatisiert werden, eine Landreform ist eingeleitet worden und gegen die Korruption in Wirtschaft und Politik wird deutlich schärfer als unter seinem Vorgänger Petro Poroschenko vorgegangen. Selenskyj verfolgt einen radikal marktwirtschaftlichen Kurs. Dies stößt allerdings in der Ukraine, mit ihrem in Teilen noch postsowjetischen Wirtschaftssystem und einer Bevölkerung mit einer entsprechenden Versorgungsmentalität, auf Widerstand.

Poroschenko hatte zu Putin ein schlechtes persönliches Verhältnis und warnte Selenskyj mehrfach, Rußland Zugeständnisse zu machen. Der Ex-Präsident und wesentliche Teile der Opposition haben sich auf einen Blockadekurs gegen Wolodymyr Selenskyj  festgelegt. Da der 41jährige jedoch die absolute Mehrheit im Parlament hat, kann er seinen Reformkurs weiterverfolgen. 

Selenskyjs politisches Programm mag zum Teil überambitioniert erscheinen. Doch sein entschiedenes Auftreten, beispielsweise in der Korruptionsbekämpfung, macht vielen Hoffnung. Die schlimmste Alternative wäre ein Scheitern Selenskyjs und seiner Reformpolitik sowie ein Wiederaufflammen des Konfliktes im Osten der Ukraine. Dies wäre wahrscheinlich mit einer großen Flüchtlingswelle in die EU verbunden.