© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Als Erklärung für die sozialen Unruhen in den lateinamerikanischen Staaten wird geltend gemacht, daß die „Schere“ zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergehe. Dabei dürfte der Abstand zwischen Ober-, Mittel- und Unterschicht in der Vergangenheit sicher größer als heute gewesen sein. Aber man war gewöhnt, das hinzunehmen, als schicksalhaft oder gottgegeben. Das ist heute anders. Das gesellschaftliche Bewußtsein ist also nicht die Folge der materiellen Bedingungen. Vielmehr führt ein neues Bewußtsein dazu, materielle Bedingungen als unerträglich anzusehen, die die Vorfahren leidend oder stoisch oder stumpf akzeptiert haben.

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Loyalität I: Die französische Eisenbahngesellschaft SNCF hat bestätigt, daß Anfang Dezember die Nutzer des Wartesaals im Bahnhof von Dijon eine unerwartete Musikeinlage zu hören bekamen. Mittels einer dort aufgestellten Jukebox können Reisende über ihr Smartphone einen beliebigen Titel wählen. Einer entschied sich für „Maréchal nous voilà“, die Hymne zu Ehren von Marschall Pétain, Staatschef des autoritären „Französischen Staates“ während der Zeit der deutschen Besetzung.

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Dem Kabarettisten Dieter Nuhr muß man – für heutige Verhältnisse – Mut zubilligen. Aber seine neueste Einlassung zum Thema Meinungsfreiheit überzeugt nicht. Denn der Versuch, Äquidistanz aufzubauen, führt nur dazu, das eigentliche Problem zu verschleiern. Der Wunsch, Menschen mit abweichenden Auffassungen mundtot zu machen, ist eben nicht links und rechts gleichermaßen verbreitet. Zumindest haben die von Nuhr so apostrophierten „Völkischen“ keine Machtstellung und keine Einflußmöglichkeiten, um entsprechende Absichten in die Tat umzusetzen. Die Gegenseite aber schon. Was er selbst am eigenen Leib erfahren hat. Weshalb er es besser wissen könnte.

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„Entweder man ist Teil der Lösung. Oder man ist Teil des Problems. Oder man ist Teil der Landschaft.“ (Robert de Niro in „Ronin“, 1998).

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In einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung kommt René Zeyer zu folgender bemerkenswerter Analyse der Verwendung des Begriffs „Faschist“ durch die tonangebenden Kreise: „Was wollen alle diese Haltungsjournalisten eigentlich mit dem Begriff ‘Faschist’ sagen? Sie wollen sagen, daß so stigmatisierte Meinungsträger keinen Platz in der öffentlichen Debatte haben. Sie wollen damit sagen, daß Publikationsplattformen, die ihnen dennoch zur Verfügung stehen, gemieden, besser noch verboten werden sollten. Sie wollen damit sagen, daß man solchen Rechtspopulisten, Hetzern, Rassisten, Faschisten keine Plattform geben darf, selbst dann nicht, wenn man sie niedermachen und entlarven will. Das neue Juste milieu will außerdem sagen: Die liegen nicht nur falsch, die sind nicht nur gefährlich, die sind nicht nur böse, verderblich, befördern das Schlechte, behindern das Gute. Die sind nicht nur vom rechten Weg abgekommen, verführt worden, dumm. Schlimmer: Die sind einfach krank. Und Krankheiten heilt man ja weder mit Framing noch mit Beschimpfungen. Sondern mit Therapien. Da bieten sich an: Elektroschocks, kalte Wasserbäder, chirurgische Eingriffe in die befallenen Hirnregionen oder medikamentöse Symptombekämpfung. Und schade, daß der Begriff ‘Umerziehungslager’ irgendwie schlecht geframt ist.“

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Loyalität II: Samia Ghali vertritt als Senatorin die Stadt Marseille. Jetzt hat sie angekündigt, daß sie bei den kommenden Bürgermeisterwahlen für die Sozialisten kandidieren werde. Allerdings erklärte sie gleichzeitig in einem Fernsehinterview, daß sie aus einer „Familie des FLN“ stamme. Gemeint ist der Front de Libération Nationale, die Nationale Befreiungsfront, die Algerien gewaltsam von Frankreich losgerissen und dann ein ebenso diktatorisches wie korruptes wie ineffizientes Regime errichtet hat. Was Madame Ghali (Jahrgang 1968) nicht an der stolzen Feststellung hindert, daß sie sich diesem Erbe weiter verpflichtet fühle.

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Der letzte Kieler „Tatort“ mit Axel Milberg („Borowski und das Haus am Meer“) präsentierte deutsche Daseinsverfehlung gleich in drei Varianten: am Beispiel des Nazi-Opas, des Achtundsechziger-Vaters und des frömmelnden Sohns. Bemerkenswert blaß blieb der Opa, dem es nach Kriegsende gelungen war, über die „Rattenlinie“ zu entkommen, mit-leiderregend wirkte der Sohn mit seiner krampfhaften Nachahmung alter Glaubenspraxis, aber ganz und gar unsympathisch und abgefeimt der Achtundsechziger, bezeichnenderweise ein Pädagoge, der für sein Schulexperiment nach Dänemark gegangen war. Es wurde nicht einmal irregeleiteter Idealismus als Entschuldigung präsentiert, sondern nur die Perfidie jenes antiautoritären Geredes, das keinem anderen Zweck diente, als dauernde Manipulation, Brutalität, Verführung und Vergewaltigung der Schutzbefohlenen zu kaschieren.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 17. Januar in der JF-Ausgabe 4/20.