© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

Zivilreligion statt moderner Wissenschaft?
Rückwärts in die Zukunft
Björn Schumacher

Der französische Denker Auguste Comte (1798–1857) gilt als Begründer des Posi-tivismus, also jener philosophischen Richtung, die sich nur mit „Gesetztem“ beziehungsweise zweifelsfrei Feststehendem befassen will. Eine Untertheorie dieser Philosophie ist der Rechtspositivismus, der staatliches und zwischenstaatliches Recht begrifflich strikt von der Moral trennt. Geltendes Recht im positivistischen Sinne waren auch die NS-Rassengesetze oder der DDR-Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze.

Berühmt wurde Auguste Comtes „Dreistadiengesetz“. Wie die von Marx fortentwickelte Hegelsche Dialektik bildet es einen geschichtsphilosophischen Dreiklang. Das Gesetz beschreibt menschliches Erkenntnisstreben von einem theologischen über ein metaphysisches (nicht naturbezogenes) hin zu einem streng wissenschaftlichen Stadium, das nur aus sinnlicher Erfahrung gewonnenes Wissen gelten läßt. „Erinnert sich nicht ein jeder von uns“, so Comte aphoristisch, „daß er […] nacheinander Theologe in seiner Kindheit, Metaphysiker in seiner Jugend und Naturforscher in seinen Mannesjahren gewesen ist?“

Dieses Dreistadiengesetz ist eine fortschrittsgläubige Philosophie mit maßgebender Zäsur zwischen den Stadien zwei und drei. Subjektivem Gottesglauben (Theologie) und ebenso subjektiven, insbesondere moralischen Bekenntnissen (Metaphysik) stellt Comte intersubjektiv zwingende, durch exakte Beweise erhärtete Erkenntnisse moderner Naturwissenschaft und Soziologie gegenüber. Dabei gesellt sich zu seinen scharfsinnigen Analysen die eine oder andere Simplifizierung. Um so verblüffender ist die Erkenntnis, daß das Dreistadiengesetz in groben Zügen den Werte- und Bewußtseinswandel der vergangenen fünfzig Jahre beschreiben kann. Allerdings laufen die drei Stadien jetzt rückwärts ab.

Nach dem Zweiten Weltkrieg genossen die empirischen (positiven) Naturwissenschaften ein hohes Ansehen. Comtes Fortschrittsoptimismus prägte die westliche Welt. Passend dazu schwang sich Karl Poppers Kritischer Rationalismus zur tonangebenden Philosophie auf. Bekenntnisse zur aufgeklärten „offenen Gesellschaft“ waren elementarer Bestandteil seiner Theorie.

Erste Risse bekam dieses kohärente Weltbild in den 1960er Jahren. Die Achtundsechziger-Bewegung hinterließ im Gefolge der neomarxistischen „Frankfurter Schule“ (Theodor W. Ador­no, Jürgen Habermas) tiefe Spuren im Wissenschaftsbetrieb. Zeitgleich erschien eine Studie des um eine „nachhaltige Entwicklung der Menschheit“ bemühten „Club of Rome“ mit dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“ (1972).

Die nächste Rolle rückwärts vom meta­physischen ins theologische Stadium vollzog sich um die Jahrtausendwende. Inzwischen braucht es nicht einmal den Gottesbezug. Zu Zivilreligionen schwingen sich „Antirassismus“ und „Klimaschutz“ auf. 

Ein metaphysisches Stadium im Sinne Auguste Comtes erreichte die Bundesrepublik Deutschland spätestens in den 1980er Jahren. Kanzler Helmut Kohls Ankündigung, eine (konservative) „geistig-moralische Wende“ zu vollziehen, verhallte wirkungslos. Ein Wildwuchs an diffusen, teils revolutionären Utopien breitete sich aus. Zum revolutionären Subjekt avancierten – abweichend von den Visionen des kommunistischen Urvaters Karl Marx – die Völker der „Dritten Welt“. Ein neuer Antiamerikanismus fand sein Ventil im US-Präsidenten Ronald Reagan und dem Nato-Doppelbeschluß zur Stationierung landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen in Deutschland.

Vernunftfreie Metaphysik erwuchs auch aus der Stigmatisierung des deutschen Volkes. Angetrieben wurde diese über den Transmissionsriemen einer angeblichen Kollektivschuld, deren Begriffsgeschichte weit ins 20. Jahrhundert zurückreicht. Art. 231 des Versailler Vertrags begründete alliierte Reparationsforderungen mit einer angeblichen Alleinschuld des Deutschen Reiches am Ersten Weltkrieg. In blanke Verachtung steigerte sich 1944 US-Präsident Frank­lin D. Roosevelt: „Dem gesamten deutschen Volk muß eingehämmert werden, daß die ganze Nation an der gesetzlosen Verschwörung gegen die Gesittung der modernen Welt beteiligt war.“

Diese Propaganda erledigte sich keineswegs mit zeitlichem Abstand zur NS-Diktatur. Motor eines irrationalen Deutschenhasses im späten 20. Jahrhundert waren die Deutschen selber, vor allem ideologieanfällige junge Menschen mit Achtundsechziger-Prägung. Die Verachtung galt zunächst der Kriegsgeneration ihrer Väter und Großväter. Im Verbund mit sogenannten Leitmedien bejubelten sie einen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der am 40. Jahrestag der Kapitulation die Alliierten als „Befreier“ pries und die furchtbare Vertreibung von 14 Millionen Landsleuten aus den deutschen Ostprovinzen, dem Sudetenland sowie Ost- und Südosteuropa als „erzwungene Wanderschaft“ verniedlichte.

Ein harmloser Gedenkakt ebenfalls vom Mai 1985 löste dagegen Empörung aus. Helmut Kohl und Ronald Reagan hatten auf der Kriegsgräberstätte von Bitburg/Eifel Kränze niedergelegt. Ihre geschichtspolitische Todsünde: Dort ruhen neben 2.000 Wehrmachtssoldaten auch 59 Angehörige der Waffen-SS, die größtenteils Wehrpflichtige waren und Seite an Seite mit der Wehrmacht gekämpft haben.

Von Weizsäckers einseitige Rede, aber auch die „Bitburg-Kontroverse“ ebneten den Weg zum linksdominierten Historikerstreit von 1986/87. Zugleich bereiteten sie den Boden für eine floskelhafte Gedenkkultur, die unschuldige deutsche Opfer in die Nähe von NS-Tätern rückt. Wo alliierter Bombenterror Tausende Zivilisten tötete und jahrhundertealte Städte zerstörte, findet man nicht etwa kriegsrechtliche Kritik an den Luftangriffen, sondern moralisierende, anti­deutsche Stereotype: Der Krieg sei an die „Heimatfront“ zurückgekehrt, von wo er seinen Ausgang genommen habe. Geifernder (inzwischen abgeschwächter) Kollektivschuldfuror wütete in einer Gedenkstätte des Würzburger Rathauses. Dort erfuhr der Leser vom „Krieg, den die Deutschen losgebrochen haben“. Geschichtsklitterung prägt – neben wertvollen Tatsachenhinweisen – auch das „Gomorrha 1943“-Museum der Hamburger Ruinenkirche St. Nikolai (JF 31–32/18).

Klarstellend sei betont, daß der Begriff der Kollektivschuld, also einer Schuld aufgrund bloßer Zugehörigkeit zu einem Volk, der individualistischen Ethik des Abendlands fremd ist. Die Metaphysik des linksliberalen Juste Milieu wird zum Katalysator antideutscher Scharlatanerie.

Die nächste „Rolle rückwärts“ vom metaphysischen ins theologische Stadium vollzog sich um die Jahrtausendwende. Eine Bronzetafel aus dieser Zeit an der Berliner Gedächtniskirche verkündet: „Der Turm der Kirche soll an das Gericht Gottes erinnern, das in den Jahren des Krieges über unser Volk hereinbrach.“ War also der selbsternannte „Soldier of Christ“ Winston Churchill ein von Gott beauftragter Henker? Etliche Funktionäre der Evangelischen Kirche Deutschlands scheinen das zu glauben. Ihr Religionsverständnis verkommt zur wahnhaften Pseudotheologie.

Inzwischen braucht es nicht einmal den Gottesbezug. Zu Zivilreligionen der Gegenwart schwingen sich „Antirassismus“ und „Klimaschutz“ auf. Jakobinerhafte Laienprediger aus Politik, Medien, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen, besser bekannt als „Zivilgesellschaft“, beschwören den Weltuntergang und die „Pest des Nationalismus“, haben aber keine Skrupel, den Götzen eines bürgerfeindlichen Internationalismus anzubeten.

Du darfst keine rassebezogenen Vergleiche anstellen (Vergleichsverbot). Du darfst keine skeptischen oder abwägenden Aussagen über nicht-weiße Menschen machen (Kritikverbot). Du darfst dich zum Kolonialismus nur uneingeschränkt negativ äußern.

Unter der Maske von Vielfalt und Demokratie hat dieser Antirassismus drei fundamentale „Toleranznormen“ entwickelt: Du darfst keine rassebezogenen Vergleiche anstellen (Vergleichsverbot). Du darfst keine skeptischen oder abwägenden Aussagen über nicht-weiße Menschen machen (Kritikverbot). Du darfst dich zum Kolonialismus nur uneingeschränkt negativ äußern (Gebot der kulturellen Selbstkasteiung). Tollkühn klingen daher Sätze eines „echten“ Theologen, des Kardinals Walter Brandmüller: „Die Kolonisierung war […] aber auch mit der christlichen Mission verbunden. […] Man darf nicht verschweigen, daß das, was an Zivilisation heute in den afrikanischen Ländern existiert, eine Folge der Mission beziehungsweise der Kolonisierung war.“

Die antirassistische Ersatzreligion speist sich aus der Sinnkrise unserer Kultur und ihrer damit verknüpften Wehrlosigkeit gegenüber selbstbewußten Entwicklungsländern. Diese wollen ihrer wachsenden Bevölkerung neue Siedlungsgebiete im Speckgürtel der Erde erschließen. Als völkerrechtlichen Stoßtrupp benutzen sie die Vereinten Nationen, deren Migrationspakt sich in Legitimationspropaganda übt: „Migration war schon immer Teil der Menschheitsgeschichte, und wir erkennen an, daß sie in unserer globalisierten Welt eine Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung darstellt.“

Keine Gnade finden „Klimaleugner“ vor dem Tribunal der neuen „Klimareligion“. Offene Debatten über Begriff und Ursachen des Klimawandels sind hier strikt verboten. Gleiches gilt für Fragen nach der Verhältnismäßigkeit deutscher oder auf die EU begrenzter Alleingänge zur CO2-Reduktion, obwohl belastbare Daten auf deren Aussichtslosigkeit hindeuten. Der parallele Verzicht auf Kernkraft und Kohlekraft könnte zudem wirtschaftliche Krisen und empfindliche Störungen der Energieversorgung auslösen.

Die Hohepriester dieser apokalyptischen Ersatzreligion interessiert das nicht. Sie verehren die sechzehnjährige, wissenschaftlich belanglose „Klima-Greta“ (Thunberg) wie eine Heilige. Deren Angststrategie („Ich will eure Panik“, „We don’t have time“) fordert unverblümt, Entscheidungen zur Energie- und Industriepolitik aus gründlichen, meinungsbildenden Diskursen herauszubrechen. Eine Art „Ökodiktatur“ soll die demokratische Legitimität ersetzen. Von der Bevölkerungsdynamik afrikanischer Entwicklungsländer, die mittelfristig zum Hauptfeind ausbalancierter Ökosysteme aufrücken dürfte, ist dagegen kaum die Rede. Statt dessen dämonisiert man deutsche Normalbürger, die mit ihrem Dieselwagen zur Arbeit fahren und die sinnstiftende Geborgenheit von Heimat und Vaterland schätzen.

Ist der „Scheißpositivismus“ (Karl Marx) damit rehabilitiert? Wohl kaum, zu offensichtlich ist die Engführung positivistischen Denkens, die sogar Kants Vernunftphilosophie im Bereich der Metaphysik verortet. Comtes Verständnis von Wissenschaft geriet daher selbst unter „Metaphysikverdacht“. Daß Neuinterpretationen seines Dreistadiengesetzes Erhellendes zutage fördern, läßt sich aber kaum bestreiten. Das betrifft nicht zuletzt den geistigen Zustand unseres Landes.






Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Bekannt wurde er durch die Studie „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg“ (Graz 2008). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Asylgewährung im Spiegel der Ethik („Antworten der Philosophen“, JF 9/16).

Foto: Auguste Comte, Begründer des Positivismus: Neuinterpretationen seines Dreistadiengesetzes können nützlich sein bei der Analyse des geistigen Zustands Deutschlands