© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

Keine Rehabilitierung für Stalins Giftmischer
Der sowjetische Mediziner Grigori Mairanowski und seine furchtbaren Menschenversuche mit tödlichen Giften
Jürgen W. Schmidt

Im September 1945 fuhr der Chef des Moskauer Giftlabors des NKWD Grigori Mairanowski auf Dienstreise ins besiegte Deutschland. Ziel der Reise war es, den Stand der toxikologischen Forschungen in Deutschland zu begutachten und deutsche Spezialisten zu befragen. In seinem Abschlußbericht konnte er befriedigt festhalten, daß die Ergebnisse der deutschen Forschung „bedeutend niedriger als unsere sind“. 

Mairanowski wurde am 24. September 1899 in eine jüdische Familie in Batumi geboren und studierte Medizin in Tiflis, Baku und Moskau. 1920 trat er in die Kommunistische Partei ein. Nach dem Studium 1922 verspürte der junge Assistenzarzt den Wunsch nach Ruhm und wissenschaftlichen Ehren und begann medizinische Forschungen auf ausgefallenen Gebieten, darunter in der Giftforschung. Dem Geheimdienst NKWD blieben diese Forschungen nicht verborgen, und 1937 wurde vom ZK der Kommunistischen Partei der Giftexperte Mairanowski ins NKWD delegiert. 

In einem „Spezialkabinett“ des Geheimdienstes sollte Mairanowski der seit Ende der zwanziger Jahre in ihren Resultaten stagnierenden Giftforschung neue Impulse verleihen. Vorrangig ging es um die Suche nach schnellwirkenden Giften, welche anschließend nicht mehr nachweisbar waren. Zuerst begann Mairanowski die Wirkung bereits bekannter Giftstoffe in den unterschiedlichsten Dosierungen auf den menschlichen Körper zu erforschen. Er selbst plante über die Wirkung des Hautkampfstoffes Yperit (Senfgas) zu promovieren. Doch wurde seine Dissertation 1940 wegen fachlicher Mängel am Institut für Experimentielle Medizin abgelehnt. 

Um so fanatischer forschte Mairanowski weiter. Als Forschungsobjekte dienten ihm vom NKWD gestellte, zum Tode verurteilte Gefangene. Die Forschung betrieb Mairanowski nach dem Prinzip der von Alexander Solschenizyn beschriebenen „Scharaschka“. Das bedeutet, in seinem Geheimlabor gingen ihm Häftlinge mit medizinischer Ausbildung als Assistenten und Laboranten zur Hand. Diese ertrugen häufig nicht das Leid, welches sie an ihren „Forschungsobjekten“ anrichten mußten. Einige Mitarbeiter begingen Selbstmord, andere wurden chronische Alkoholiker. 

Fast täglich kamen Gefangene im Labor an und wurden von Mairanowski oder dessen Assistenten über ihren Gesundheitszustand befragt, medizinisch untersucht und erhielten anschließend „Medizin“, welche aus unterschiedlichen Giften in verschiedenen Dosen bestand, die oral oder per Injektion verabreicht wurden. Über den Gesundheitszustand der Häftlinge und deren Sterben wurde akribisch Buch geführt. Sollten die Opfer binnen zehn bis vierzehn Tagen immer noch nicht gestorben sein, wurden sie mit den „gebräuchlichen Methoden“ umgebracht. Als der gefühlskalte Mairanowski, den man bald „Dr. Tod“ nannte, den Drang nach der Verleihung eines wissenschaftlichen Grades immer heftiger verspürte, begann er im Auftrag des NKWD Experimente mit neuentwickelten Giftstoffen, die man auch als Sabotagegifte im Hinterland des Gegners verwenden konnte. Durch Zufall entdeckte Mairanowski im Jahr 1942 das Prinzip der Wahrheitsdrogen. Dabei handelte es sich um chemische Substanzen, welche das Opfer gegen seinen Willen „gesprächig“ machten. 

Im NKWD blieben seine energiesprudelnden Aktivitäten nicht unbemerkt. Der Geheimdienst erfüllte nunmehr Mairanowskis sehnlichsten Wunsch, indem der stellvertretende NKWD-Chef Wsewolod Merkulow seinen Untergebenen zur „Ernennung“ zum Dr. med. einreichte. Als Begründung diente eine Expertise des bedeutenden sowjetischen Pathologen Professor Alexei Speranski, welcher auf Wunsch des NKWD darin bescheinigte: „In seiner Dissertation zeigt Gen. Mairanowski neue Möglichkeiten des Kampfes gegen Giftstoffe durch Verwendung verschiedener Aminosäuren. Diese Arbeit besitzt ausgesprochene Wichtigkeit.“ 

„Dr. Tod“ vergiftete auch deutsche Kriegsgefangene

„Dr. Tod“ wurde also 1943 ein „richtiger“ Dr. med. und kurz darauf Professor für pathologische Physiologie sowie „Oberst des medizinischen Dienstes“. Der russische Historiker Alexander Sever, welcher die Aktivitäten von „Dr. Tod“ erforschte, hält es nicht für ausgeschlossen, daß Mairanowskis Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Gifte nicht nur gegen die Feinde der Sowjetmacht zur Anwendung kamen, sondern in Einzelfällen innerhalb des NKWD benutzt wurden, um unerwünschte Mitwisser stillschweigend zu beseitigen. 

Wie viele Opfer Mairanowskis Menschenversuche forderten, kann nur geschätzt werden. Doch vermutet Alexander Sever wenigstens 150 bis 200 Tote. Die Opfer waren nicht allein nur Sowjetbürger, sondern auch deutsche und japanische Kriegsgefangene, Polen, Koreaner und Chinesen. Nachweislich wurden 1944 vier deutsche Kriegsgefangene und Ende 1945 nochmals drei deutsche Politemigranten bei Giftexperimenten getötet. 1946 schloß man das Giftlabor des NKWD aus unbekannten Gründen und setzte Mairanowski auf eine andere Arbeit um. 

Nach dem Sturz von Lawrenti Beria 1953 geriet er in Haft und saß bis 1961 ein. Zugleich entzog man ihm seinen militärischen Rang und alle wissenschaftlichen Titel, was Mairanowski schwer traf. Er bat nach Haftentlassung 1961 darum, ihm wenigstens seine wissenschaftlichen Titel wieder zu verleihen. Diese Bitte ging nach hinten los, denn nun entzog man „Dr. Tod“ auch seine restlichen staatlichen Auszeichnungen. Verbittert starb Mairanowski im Jahr 1964 als simpler Laborleiter. Zu Perestroikazeiten versuchten seine Söhne bei der sowjetischen Generalstaatsanwaltschaft seine Rehabilitierung zu erreichen. Doch wegen der von Mairanowski verübten Verbrechen schlug man diese Bitte rundweg ab.