© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

Großes Fragezeichen an der Nibelungentreue
Interessante Aufzeichnungen des württembergischen Offiziers Gerold von Gleich über die Schwäche des k.u.k.-Reiches und Deutschlands fatale Bündnispolitik
Manfred Backerra

Gerold von Gleich, königlich württembergischer Major im Generalstab, schreibt 1913 nach Rückkehr als Beobachter im 1. Balkankrieg in seinem Bericht an den Großen Generalstab in Berlin über Österreich-Ungarn, den Hauptverbündeten des Reiches: „Ich kann mich der Befürchtung nicht erwehren, daß die Auflösung des aus heterogenen Elementen bestehenden Staates nur eine Frage der Zeit ist und sehe nicht ein, warum gerade wir uns bemühen sollen, diesen naturgemäßen Prozeß aufzuhalten, vielmehr würde ich es dem Vorteil des Reiches für sehr entsprechend halten, wenn wir beizeiten eine andere politische Gruppierung anstreben und uns von einem Verbündeten allmählich lösen würden, dessen politische Aspirationen weit über seine reale Macht hinausgehen, und der im Wesentlichen nur unsere Militärmacht ausnutzen will. Wenn das Ende Österreichs einmal eintritt, ist es besser, daß Deutschland in folgerichtiger Durchführung der Politik von 1866 sich an dessen Aufteilung aktiv beteiligt.“ 

Mit dieser, in diesem Fall für seine Zeit ungeheuerlichen, unbeirrbar schonungslosen Klarsichtigkeit, beurteilt er auch später, oft mutig seine Zuständigkeit überschreitend, Bündnispolitisches sowie bis ins praktische Detail das Militärische und bringt es mündlich und schriftlich zum Ausdruck.

Der Autor, ein Enkel Gerold von Gleichs, läßt in dieser Biographie weitestgehend seinen Großvater aus Tagebüchern, Briefen und dienstlichen Schreiben selbst zu Wort kommen. Weil dieser in der höheren Gesellschaft diverse Kontakte bis hin zum Thron hatte – Kaiser Wilhelm II. war Chef seines Dragoner-Regiments –, immer wieder in den Großen Generalstab berufen, im Krieg Stabschef einer türkischen Armee wurde, doch auch im Frieden und Krieg mit Verve Truppenführer war, erhält der Leser aus erster Hand einen lebendigen Bildausschnitt der gesellschaftlichen, politischen und militärischen Verhältnisse der Zeit vor und im Ersten Weltkrieg. Faszinierend ist, wie hier ein Mann in seiner Zeit – nicht in Memoiren – sehr treffend Mängel und Fehler innerhalb des deutschen Heeres kritisiert (wie zum Beispiel Beförderung im Krieg zu sehr nach Anciennität, also dem Dienstalter, oder des Kaisers Festhaltens an Kavallerie-Attacken) und Verbesserungen vorschlägt. Dies hat er in einer Studie „Die alte Armee und ihre Verirrungen“ 1919 veröffentlicht. Wahrscheinlich hat die Reichswehr oder später die Wehrmacht daraus manche Lehre gezogen. 

Nach dem Krieg bewies von Gleich, daß er als reiner Autodidakt ein hervorragender und leidenschaftlicher Mathematiker und Physiker war, der sogar Einsteins Relativitätstheorie zu verwerfen versuchte und dafür die Zustimmung höchstrangiger Wissenschaftler (unter anderem eines Nobelpreisträgers) erhielt. Von seinen Schriften erschien „Einsteins Relativitätstheorien und physikalische Wirklichkeit“ noch 2018 als Reprint, ebenso wie 2012 seine „Militärisch-politischen Erinnerungen an den Orient.“ 

„Gerold von Gleich – General, Chronist, Gelehrter “ ist eine lehrreiche und erfreulich gut zu lesende Lektüre. 

Albrecht von Gleich, Fabian von Gleich: Gerold von Gleich – General, Chronist, Gelehrter. Verlag Tredition, Hamburg 2019, gebunden, 432 Seiten, Abbildungen, 21,49 Euro