© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

In blindem Gehorsam mitschuldig gemacht
Der Journalist Bartholomäus Grill über die These vom Völkermord in Namibia
Paul Leonhard

Deutsche Kriegsverbrecher, Schwindler, Taugenichtse und Sadisten waren in den einstigen Kolonien des Kaiserreiches zugange. Dazu einheimische Kollaborateure, die brandschatzten, raubten, mordeten, vergewaltigten, ihren Opfern Gliedmaßen oder die Köpfe abschnitten, um diese den deutschen Offizieren als Trophäen zu präsentieren. Und die ihren verrohten weißen Kameraden an Grausamkeit in nichts nachstanden.

Der Kolonialbeamte Carl Peters war der größte Landräuber im Namen des Deutschen Kaiserreiches, der Kaufmann Adolf Lüderitz ein raffinierter Betrüger, Generalleutnant Lothar von Trotha ein bösartiger Vernichtungskrieger, der berühmte Mediziner und Nobelpreisträger Robert Koch mit seinen illegalen Menschenversuchen in Daressalam nichts anderes ein Vorgänger des KZ-Arztes Josef Mengele, Paul von Lettow-Vorbeck war kein „Löwe von Afrika“, sondern der Anführer einer Terrororganisation namens „Schutztruppe“.

Glaubt man Bartoholomäus Grill, hat Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts Tausende von Sadisten und Mördern sowie die Unfähigsten der Unfähigen nach Afrika entsandt, um die dortige Bevölkerung zu dezimieren und zu unterdrücken. Man könnte Grills Buch „Wir Herrenmenschen“, in dem der Afrikakorrespondent über die Geschichte der deutschen Kolonien fabuliert, schnell wieder aus der Hand legen, gäbe es nicht jenes Kapitel über Deutsch-Südwestafrika, in dem der Autor den vielzitierten Völkermord an den Hereros in Zweifel zieht. Das erstaunt nach der Lektüre der vorherigen Seiten, auf denen Grill den Deutschen in Afrika jede Schlechtigkeit unterstellt. Warum diese unerwartete Sicht auf Südwest?

Die einfache Antwort lautet: persönliche Befindlichkeiten. Grill hatte im Juni 2016 im Spiegel in einem sechsseitigen Bericht die Ansichten mehrerer namibischer Forscher übernommen, wonach es der deutschen Schutztruppe unmöglich war, mit einer Handvoll Soldaten die Hereros militärisch zu besiegen und sie dann in der Wüste Omaheke verdursten zu lassen. Als Indizien dienten persönliche Briefe und das unveröffentlichte Tagebuch des Kommandeurs, dessen Eintragungen sich völlig von seinen offiziellen Siegesmeldungen nach Berlin unterschieden.

Damit habe er die Histori­kerzunft gegen sich aufgebracht, „die man gemeinhin progressiv nennt“, schreibt Grill. Mit den Professoren Henning Melber, Reinhart Kößler und Jürgen Zimmerer hätten sich drei führende Vertreter der Genozid-These in einem Protestbrief an die Chefredaktion gewandt, in dem sie Grill vorwarfen, ein „politisch konservativ-reaktionäres und kolonialapologetisches Verständnis der damaligen Geschehnisse in Deutsch-Südwestafrika aufzuwärmen“.

Im Buchkapitel „Gewisse Ungewiß­heiten“ bezieht sich Grill vor allem auf die Forschungen der 1996 ums Leben gekommenen Historikerin Brigitte Lau und des am Fuße des Waterbergs lebenden Hobbyforschers Hinrich Schneider-Waterberg, der in seinem 2006 erschienenen Buch „Der Wahrheit eine Gasse“ mit eigenen Recherchen versucht, die These vom qualvollen Tod von 60.000 bis 80.000 Hereros zu widerlegen.

„Im Busch, in dem der Blick keine vierzig Meter reicht“

Auch Grill fragte sich vor Ort „im Dornenbusch, in dem der Blick keine 40 Meter reicht“, wie hier knapp 1.600 deutsche Soldaten mit 30 Geschützen und 12 Maschinengewehren, unzureichend mit Verpflegung und Munition ausgestattet, bis zu 6.000 mit modernen Gewehren bewaffnete Herero-Krieger besiegt haben sollen, die mit dem Gelände bestens vertraut waren und gegen die orientierungslos im Busch herumirrenden Deutschen in Partisanentaktik kämpften.

„Wie aber konnte dieser desolate, von zweifelnden Offizieren befehligte Haufen von weniger als 1.600 Mann zu einer effizienten Mordmaschine mutieren, die einen Genozid vollstreckt?“ fragte schon vierzig Jahre nach den Kämpfen Brigitte Lau, die als Leiterin des Nationalarchivs in Windhuk sieben Jahre zum Herero-krieg forschte. Nach Auswertung des 4.000seitigen „Sanitätsberichtes über die deutsche Truppe in Südwestafrika“, einem minutiös zusammengestellten Regierungsreport, kommt Lau zu der Ansicht, daß es für eine „in die Tat umgesetzte Kolonialpolitik des Genozids“ keine Beweise gibt. Überhaupt stellt die Historikerin sämtliche Statistiken in Frage: die Gesamtzahl der Hereros vor dem Krieg (von deutschen Missionaren mit „nicht mehr als 35.000“ angeben), die Schätzungen bezüglich der Überlebenden (1906 sollen es zwischen 23.000 und 25.000 gewesen sein), die Stärke der deutschen Truppe. Das Bestreben, aus all den „ungewissen Gewißheiten“ einen Genozid abzuleiten, sei „geschichtlicher Unsinn“. 

Lau bestreite nicht den Tod Tausender Hereros, „spricht aber von einem nationalen Exodus, den die Führer dieses stolzen Volkes beschlossen hätten, um der kolonialen Unterdrückung zu entfliehen“, schreibt Grill. Und von Schneider-Waterberg zitiert er dessen feinsinnige Frage, wo denn die sterblichen Überrese der Opfer seien. Man hätte doch im Laufe der Jahrzehnte zahllose Gebeine entdecken müssen. Auch habe kein Völkermord-Theoretiker jemals Zeitzeugen der Herero befragt.

Nach so viel Ehrlichkeit findet Grill im nächsten Kapitel wieder zum gewohnten Duktus zurück: Unbestreitbar sei, daß die deutsche Schutztruppe schwerste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt habe: „Wahllos erschossen, erstachen, erhängten und vergewaltigen die deutschen Soldaten ihre Gegner, fast alle haben sich in blindem Gehorsam mitschuldig gemacht.“ Beweise? Grill hat keine.

Aber er kann auf das Auswärtige Amt verweisen, das 2015 die Ereignisse als „Kriegsverbrechen und Völkermord“ bezeichnete, oder auf den Aufruf der Initiative „Völkermord verjährt nicht“, den Genozid im heutigen Namibia anzuerkennen und die Nachfahren der Opfer – 2001 beliefen sich deren Forderungen auf vier Milliarden US-Dollar – zu entschädigen.

Bartholomäus Grill: Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe. Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. Siedler Verlag, München 2019, gebunden, 280 Seiten, 24 Euro