© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

Keine Energiewende ohne Humuswende
Der Boden – ein neuer Verbündeter der Klimawandeldebatte / Naive Forderungen an die EU-Agrarpolitik
Christoph Keller

Zu den umweltpolitischen Planzielen, die wechselnde Bundesregierungen während der Kanzlerschaft Angela Merkels erreichen wollten, gehören auch die täglichen 30 Hektar Boden, auf die der nationale Flächenverbrauch bis 2020 zu reduzieren sei. Aber wie bei den eine Million Elektroautos, die bis dahin über deutsche Straßen rollen sollten, ist auch die ambitionierte Bodenpolitik krachend gescheitert. Denn derzeit geht das, was der Frankfurter Publizist Florian Schwinn den „Vernichtungsfeldzug gegen den Boden“ nennt, munter weiter, da „wir betonieren, asphaltieren, wegbaggern, planieren, versiegeln“, was das Zeug hält (Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/19).

Kein sinnliches Erleben der natürlichen Mitwelt mehr

Zwar nahm der Flächenhunger seit 2001, als Verkehr und Siedlung täglich über 120 Hektar Boden forderten, inzwischen auf 62 Hektar ab. Aber das ist immer noch mehr als das Doppelte dessen, was für 2020 proklamiert wurde. Zwei Drittel werden für Wohn- und Gewerbebauten verwendet. Woran lag es, wen trifft die Verantwortung dafür? Darauf fallen die Antworten kontrovers bis widersprüchlich aus. Einig sind sich die Kontrahenten des öffentlichen Diskurses nur darin, daß das Thema Bodendegradation bislang am Katzentisch verhandelt worden ist. Weil Adam, der „Erdling“ (Martin Buber), im Zuge der neuzeitlichen Industrialisierung und Urbanisierung im wahrsten Sinne seine Bodenhaftung verloren habe, findet Martin Held, bis 2015 Studienleiter für nachhaltige Entwicklung an der Evangelischen Akademie Tutzing.

Die Erde spiele für den Lebensunterhalt und den ökonomischen Status für nur noch wenige Menschen eine Rolle. „Je mehr wir das Problem der Bodendegradation durch Versiegelung verschärfen, desto weniger gehen wir noch physisch auf Mutterboden. Damit nimmt das sinnliche Erleben des Bodens ebenso ab wie andere direkte Bezüge zu unserer natürlichen Mitwelt. Diese Abnahme geht einher mit einer Abwertung der Böden als ’letzter Dreck‘“.

Die Agrarökonomin Katharina Reuter, Geschäftsführerin von Unternehmensgrün, weist im gleichen Heft der Politischen Ökologie (157-159/19) zwar wie Held auf die politische Ignoranz hin, die aus dem „Verlust des Bodenkontakts“ in modernen Gesellschaften folge. Deren Gleichgültigkeit die Tatsache Vorschub leiste, daß es sich um schleichend ablaufende Prozesse handle, die sich tief in der Erde jenseits wahrnehmbarer Umweltzerstörungen wie der Vermüllung der Meere oder dem Abholzen tropischer Regenwälder vollziehen.

Anders als Held glaubt Reuter jedoch, eine neue Aufmerksamkeit werde dem Bodenschutz zuteil, der nie als „Topthema für die Nachrichten“ taugte. Zu erklären sei das mit der medial omnipräsenten „Klimarettung“. In deren Schlepptau rücke die Bedeutung der Böden als Kohlenstoff-, Wasser- und Nährstoffspeicher ins öffentliche Rampenlicht. Wie die Atmosphäre bilde der Boden eine Existenzgrundlage und sei somit ein „wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den Klimawandel“.

Das erwachende „Bodenbewußtsein“ gelte es jetzt zu nutzen. Dafür hofft Reuter auf die EU-Kommission, die 2014 ihren Versuch, eine Bodenschutzrichtlinie auszuhandeln, wegen der Uneinigkeit der Mitgliedsländer abbrechen mußte. Die 2020 für sieben Jahre neu festzulegende „Gemeinsame Agrarpolitik“ (GAP) biete aber die Chance, sich umwelt- und bodenschützend zu profilieren. Was durch verstärkte Förderung des Ökolandbaus sowie durch Honorierung von Bodenschutzmaßnahmen in der konventionellen Landwirtschaft geschehen könne.

„Industrielle Grundbesitzer und Landspekulanten“

Das sind verblüffend naive Reformvorschläge, zumal Reuter mit alternativer Bodenpolitik zur Weltrettung beitragen möchte. Ohne freilich über mehr als Andeutungen zum „Boden als globale Ware“ und zur afrikanisch-asiatischen Misere des „Land grabbing“ (Landaneigung und Landraub durch kapitalstarke Investoren, JF 47/16) hinauszukommen, jene „‚dunkle Seite‘ der Agrarlobby“, die ein viel zu großes Interesse daran habe, „mit Kunstdüngern und Co. das Problem einer stark zehrenden Intensivlandwirtschaft zu erhalten“.

Während Reuter so pauschal wie vernebelnd „die Intensivlandwirtschaft“ ins Visier nimmt, gibt der eingangs zitierte Florian Schwinn, der vor kurzem auch mit einem Buch zum Thema („Rettet den Boden!“, Westend Verlag 2019) hervorgetreten ist, seinen Kassandrarufen deutlich mehr Substanz. Weil Schwinn sich zunächst mit dem „Wundermaterial Humus“ befaßt. Also der Nährstoff- und Wasserbasis der Pflanzen in der oberen Bodenschicht, die er den „vielfältigsten Lebensraum der Erde“ nennt.

Auf einem Kubikmeter gesunden Oberbodens leben mehr Organismen, Asseln, Faden- und Regenwürmer, Doppel- und Hundertfüßler, Algen, Pilze, Milben, als es Menschen auf der Erde gibt. Die so überaus belebte und fruchtbare Bodenschicht, die Wasser speichert und filtert, das Land klimatisiert und eben Kohlenstoff speichert, ist allerdings durchschnittlich nur einen halben Meter dick, entsprechend verwundbar und, wie der permanente „Krieg gegen den Boden“ zeige, schnell und für Jahrhunderte zerstört.

Eine „Humuswende“, wie sie schon der Gastgeber Frankreich auf der Pariser Klimakonferenz 2015 vorschlug, sei daher „unbedingt nötig“. Ließe man jedes Jahr auf allen landwirtschaftlich genutzten Böden der Erde nur vier Promille mehr Humus wachsen, dann wäre der gesamte jährliche Kohlendioxid-Ausstoß der Menschheit im Boden gespeichert.

Mit der Brüsseler GAP wäre ein solches Ziel nicht zu erreichen. Dazu bräuchte es einen „ökologischen Kassensturz“, der Schluß mache mit der Brüsseler Subventionsgießkanne, die „industrielle Großgrundbesitzer und Landspekulanten“ bevorteilt. Die Umstellung der „neoliberal“ konditionierten EU-Agrarpolitik auf „Gemeinwohlorientierung“ und die gezielte Honorierung von umweltschonenden Gemeinwohlleistungen, also letztlich auf Bedürfnisse kleiner und mittlerer Betriebe, wie vom Wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium verlangt, käme freilich einem revolutionären Systembruch gleich. Den, wie Schwinn im Stil von Verschwörungstheoretikern raunt, jene „treibende Kraft“ nicht zulassen würde, die „hinter der Beschleunigung der katastrophalen Ereignisse“ stehe.

„Raubbau an der Erde: Unser Krieg gegen den Boden“, in den Blättern für deutsche und internationale Politik (10/19):  www.blaetter.de

Themenheft „Morgenland“ der Politischen Ökologie (157-159/19): oekom.de





Weiterer Zuwachs an Siedlungsfläche

In seiner Studie „Reduzierung der Flächeninanspruchnahme durch Siedlung und Verkehr“ begründete das Umweltbundesamt die 30-Hektar-Grenze für den täglichen Bodenverbrauch. 2003 wurde prognostiziert, daß die „jüngere Generation zahlenmäßig wesentlich schwächer besetzt“ sei und sich die EU-Osteinwanderung „auf ganz Westeuropa verteilen“ würde. Doch die Einwohnerzahl ist auf über 83 Millionen gestiegen. Der Zuwachs habe „den Druck auf den deutschen Wohnungsmarkt erhöht: 2018 lebten in Deutschland 2,5 Millionen Menschen mehr als noch 2012“, heißt es in der Dezember-Analyse „Städte-Boom und Baustau“ des Statistischen Bundesamts. Neben dem Geburtenhoch sei vor allem der starke Zuzug aus dem Ausland dafür verantwortlich. Die Zahl der Wohnungsbaugenehmigungen habe sich daher von 178.000 (2009) auf 347.000 (2018) verdoppelt. Das Ziel, den Flächenverbrauch nun bis 2030 auf 30 Hektar pro Tag zu begrenzen, ist aus Sicht des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung kaum erreichbar.