© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/20 / 03. Januar 2020

Der Flaneur
Heimat- Erinnerungen
Paul Leonhard

Mein Zug ist weg, der nächste fährt erst in einer Stunde. Nach dreimaligem Abschreiten des Bahnsteigs verlasse ich diesen. Der Lift wird laut eines verblichenen Papiers seit Wochen repariert. Ich laufe die Treppen herunter, entziffere ein paar Graffitis. Dann bleibt mein Blick an einer kleinen Galerie im Bahnhofstunnel hängen. Vielleicht zwei Dutzend Aufnahmen aus der Wildsdruffer Vorstadt und der Friedrichstadt – meine alte Heimat, erstere als Kind, zweitere als Student. Wobei niemand von der Wilsdruffer Vorstadt sprach, zumal die heutige Wilsdruffer Straße damals Ernst-Thälmann-Straße hieß und der Wettiner Platz wie die Oberschule nach Fritz Heckert benannt waren. Nur der Bahnhof Mitte hieß schon so, und den nannten wir wiederum Wettiner Bahnhof, obwohl vom einstigen Gebäude nur ein Schornstein die Bomben und den Abrißwahn überstanden hatte.

In dem Wohnhaus auf dem einen Foto wohnte damals ein Kommilitone.

Ich lasse die Bilder der Fotografen auf mich wirken: Die Reste einer Treppe erinnern an ein verschwundenes Wohnhaus auf der Wachsbleichstraße. Da wohnte ein Kommilitone, der später Pfarrer wurde, unterm Dach mit einer hübschen Blonden. Natürlich illegal, wie wir fast alle. Der Neptun auf dem, dem Wassergott gewidmeten Brunnen, auf dem Krankenhausgelände ist mit Schnee gepudert, und jemand hat ihm Ikarus-Flügel auf das Foto gemalt.

Eine Aufnahme zeigt den Queckbrunnen, aus dem wir früher tropfenweise das Wasser schlürften. Eine andere den alten Straßenbahnhof und die Weizenmühle. Und da ist die Matthäuskirche und hier der Birkenhain, abgeholzt vor ein paar Wochen, wie ich in der Zeitung gelesen habe. Unter dem Foto des Verschiebebahnhofs Friedrichstadt der Hinweis, daß „von hier aus keine Züge dorthin fahren“. 

Verdammt, mein Zug. Erschrocken schaue ich auf die Uhr. Es ist höchste Zeit, ich haste die Treppen hinauf. Im frisch begonnenen Jahr werde ich hier auf Spurensuche gehen, verspreche ich mir.