© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/20 / 10. Januar 2020

Drehscheibe Deutschland
Größte Übung seit 25 Jahren: Ab Februar transportieren Amerikaner Soldaten und Material Richtung Osten
Peter Möller

Wer sich an die siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnert, kennt sie noch: die endlosen Militärkolonnen auf den Autobahnen, vollbeladene Züge mit Panzern und Geschützen, verdreckte Landstraßen und Verkehrstips im Fernsehen, in denen auf die Gefahr von Kampfpanzern für andere, weniger gepanzerte Verkehrsteilnehmer hingewiesen wurde. Es war die Zeit der großen Nato-Manöver in der alten Bundesrepublik, mit denen dem Warschauer Pakt die Entschlossenheit des westlichen Militärbündnisses demonstriert werden sollte, West-Deutschland gegen einen Angriff der Sowjetunion und ihrer Verbündeten zu verteidigen. Gleichzeitig trainierten die amerikanischen Streitkräfte bei diesen Gelegenheiten ihre Fähigkeit, im Ernstfall in kürzester Zeit große Mengen Soldaten und Material aus den Vereinigten Staaten nach Europa zu transportieren, um die hier bereits stationierten Truppen zu verstärken.

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden diese militärischen Übungen drastisch zurückgefahren, und die logistischen Fähigkeiten des Bündnisses, große Mengen Material innerhalb kürzester Zeit zu transportieren, verkümmerten. Doch seit Beginn der Ukraine-Krise 2014 und der Annexion der Krim durch Rußland wurde eine Kehrtwende vollzogen. Allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Deutschland ist nicht mehr Aufmarschgebiet für die Nato-Truppen, sondern Transitland auf dem Weg nach Osten. In den Planungen der Militärs kommt der Bundesrepublik die Aufgabe einer gigantischen Drehscheibe zu, über die Truppen an die Nato-Ostgrenze nach Polen und in das Baltikum verschoben werden.

Im neuen Jahr werden die reaktivierten logistischen Fähigkeiten der Nato-Verbündeten einer besonderen Belastungsprobe unterzogen. Ab nächstem Monat beginnen die Amerikaner, Soldaten und Material in Divisionsstärke für eine der größten Übungen seit Jahrzehnten nach Europa zu transportieren, um die eigenen strategischen Fähigkeiten zu überprüfen und um Rußland zu beeindrucken. Die „Defender Europe 20“ genannte Nato-Großübung ist von Februar bis August 2020 angesetzt. Daran werden insgesamt 37.000 Nato-Soldaten beteiligt sein, die zusammen mit ihrem Material 4.000 Kilometer durch Europa transportiert werden müssen.

„Nicht auf dem kürzesten und bequemsten Weg“

„Wir bauen nicht nur unsere strategische Einsatzbereitschaft auf, indem wir 20.000 Soldaten von den Vereinigten Staaten nach Europa verlegen und dann über den Kontinent in die Übungsgebiete bringen, sondern wir verbessern mit jeder einzelnen kleinen Übung auch die taktische Einsatzbereitschaft“, erläuterte der stellvertretende Stabschef der US-Armee in Europa, General Sean Bernabe, die Ziele der Anstrengungen. „Es ist eine große Aufgabe für alle Beteiligten und deshalb haben wir vor Monaten mit der Planung begonnen. Die gesamte Logistik der US Army – fast die gesamte Logistik der Vereinigten Staaten – ist voll und ganz damit beschäftigt. Und offen gesagt, auch unsere Verbündeten hier auf dem Kontinent mußten sich gut aufstellen, um diese Kräfte in den vier Häfen zu empfangen und sie dann zügig über den Kontinent zu transportieren“, sagte der General. 

Der Transit der Truppen zu den Übungsgebieten in Polen und im Baltikum werde unter anderem mit Flugzeugen, Bussen, der Bahn und militärischen Konvois über Deutschland erfolgen. Die Verlegung der Truppen von den Häfen in den Osten soll von Februar bis April über vier Hauptwege erfolgen. Derzeit erfolge die Abstimmung der Routen mit den lokalen Behörden. „Wir planen diese Bewegungen für die Nacht, um die Störungen des normalen Zivilverkehrs zu minimieren“, versichert Bernabe. Auch über Ostern werde eine Pause eingelegt.

Auf deutscher Seite ist der Inspekteur der Streitkräftebasis, Generalleutnant Martin Schelleis, für den reibungslosen Transport durch die Bundesrepublik und die Versorgung der Truppen zuständig. „Wir organisieren zur Zeit für Deutschland die logistische Unterstützung, Unterkunft, Verpflegung, Betriebsstoffversorgung, aber auch – und das in Absprache mit den zivilen Behörden – die Marschwege und die Verkehrsleitung“, sagte Schelleis dem Fachmagazin Europäische Sicherheit und Technik. Er verdeutlichte den Test-Charakter von Übungen wie „Defender Europe 20“. Es gehe dabei nicht immer darum, den kürzesten und bequemsten Weg für die Truppenverlegungen zu wählen. „Die Truppen werden ganz bewußt auf verschiedenen Wegen verlegt, um Schwachstellen zu identifizieren, sowohl was die Infrastruktur, aber auch die Verfahren angeht.“ So wäre es am unkompliziertesten, wenn die Schiffe mit dem Militärmaterial aus den Vereinigten Staaten einen Ostseehafen anzusteuern würden. „Aber man muß natürlich auch von verschärften Lagen ausgehen, wo der Seeweg nicht bis zum Ende nutzbar ist. Deswegen werden ganz bewußt auch andere Verkehrswege genutzt bis hin zu Binnenschiffahrtswegen“, sagte Schelleis. 

Vor welche Herausforderungen der Transport von Materialmassen quer durch Deutschland die zuständigen Stellen stellt, deutet der Generalleutnant nur an: „Wir haben erheblichen infrastrukturellen Nachholbedarf. Das ist jedem Autofahrer, jedem Bahnfahrer in Deutschland bewußt.“ Um den Transport auf der Schiene sicherzustellen, hat die Bundeswehr bereits 2018 einen Rahmenvertrag in Höhe von bis zu 100 Millionen Euro mit der Bahn geschlossen, der unter anderem einen verbindlichen Transportplan für eine Verlegung von Gefechtsfahrzeugen und Containern nach Litauen enthält. Zudem hat sich die Bahn verpflichtet, rund 300 Waggons bereitzuhalten, um die kurzen Bereitstellungs- und Transportzeiten für Truppentransporte gewährleisten zu können.

Doch die Logistiker der Bundeswehr werden nicht nur durch den Transport alliierter Truppen gefordert. Vor allem die von der Nato 2014 als Reaktion auf die Ukraine-Krise aufgestellte sogenannte Speerspitze „Very High Readiness Joint Task Force“ (VJTF), deren 5.000 Soldaten zählende Einheiten innerhalb von 48 bis 72 Stunden einsatzbereit an ihrem Bestimmungsort sein müssen, hat die materiell ausgezehrte Bundeswehr vor große logistische Herausforderungen gestellt. Insbesondere in der Anfangsphase konnte das Material für die beteiligten deutschen Verbände nur in der erforderlichen Menge bereitgestellt werden, weil andere Einheiten dafür regelrecht kannibalisiert wurden. Nicht viel anders sah es bei der Bevorratung von Verbrauchsmaterial aus.

Mit Hochdruck mehr      Material beschaffen

Aus diesen Erfahrungen hat die Bundeswehr mittlerweile ihre Schlüsse gezogen. Im Jahr 2023, wenn Deutschland turnusgemäß wieder die Führungsrolle bei der Speerspitze übernimmt und damit die bereitgestellten Truppen voll ausgestattet innerhalb kürzester Frist verfügbar sein müssen, soll alles anders werden. Mit Hochdruck wird seit Monaten daran gearbeitet, die Beschaffung des benötigten Materials für die deutschen Einheiten der Speerspitze zu beschleunigen und zu vereinfachen und die Lagerbestände zu erhöhen. 

Anders als bislang soll dabei nach Ansicht des Abteilungsleiters Führung Streitkräfte im Verteidigungsministerium, Generalleutnant Markus Laubenthal, nicht mehr „Spitz auf Knopf“ gerechnet werden, sondern die Einsatzbereitschaft der Truppe müsse im Mittelpunkt aller Überlegungen stehen.