© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/20 / 10. Januar 2020

Opium des Volkes und Opium für das Volk
Betäubendes Herrschaftsmittel
(dg)

Daß „Religion Opium des Volks“ sei, ist ein populäres Zitat, das jeder Karl Marx zuschreibt. Ob der Stifter der kommunistischen Ersatzreligion aber wirklich der Urheber der 1844 erstmals benutzten Wendung ist, daran zweifelt Joachim Eberhardt, Germanist und Bibliothekar in Detmold. In einem Beitrag zur Ideengeschichte will er Marx zwar nicht als Plagiator entlarven. Aber doch dessen Gebrauch der Metapher von der betäubenden Wirkung der Religion, die dem Volk ein „illusorisches Glück“ vermittle, einer kulturell-historischen Semantik mit langer Traditionslinie zuordnen. Dabei war das Wort Opium in der Alltagssprache um 1850 keineswegs so negativ besetzt, wie Marx es verwendet. Denn die bis 1868 frei verfügbare Allerweltmedizin erfreute sich im England der Frühindustrialisierung gerade unter Arbeitern hohen Zuspruchs, da es ihnen half, Müdigkeit und Depressionen abzumildern. Marx selbst nahm Opium wiederholt ein. Jedoch brachte Heinrich Heine, ebenfalls ein „Opiumesser“, dieses Heilmittel 1840 bereits in deutlich abwertende Beziehung zu Religion und Kirche, die dem „leidenden Menschengeschlecht in den bittern Kelch geistiges Opium goß, einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben“. Auch der politisch kalkulierte Einsatz christlicher Religion durch den Staat zwecks Täuschung der Massen war im junghegelianischen Umfeld von Marx vor 1844 üblich. Lenins Übersetzung, die aus Marx’ Genitiv-Konstruktion „Opium für das Volk“ macht, spitzt das „Urwort“ nur weiter zu, das heute für jedes Instrument steht, das dazu diene, Herrschaft zu stabilisieren (Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 3/2019). 


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