© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/20 / 10. Januar 2020

Einsames Gespräch gegen die Zeit
Innere Emigration, JF-Serie Teil IV: Gottfried Benns Erzählung „Weinhaus Wolf“
Günter Scholdt

Innere Emigration als Lebensform verbindet sich für zahlreiche Autoren mit dem Rückzug auf einen überschaubaren Ort, in die Klause, Insel, den eng umgrenzten Raum. Dies trifft exemplarisch auf Gottfried Benn zu, genauer: auf den Autor der 1930er Jahre, der gerade aus dem politisch heiklen Berlin „geflohen“ war in die Garnison Hannover und die Wehrmacht als die von ihm so bezeichnete „aristokratische Form der Emigration“. Und mehr noch auf den Handlungsort seiner (1937 geschriebenen, 1949 publizierten) Prosaimpression „Weinhaus Wolf“. Denn an einem einzigen Tisch dieser Gaststätte, den sich der Ich-Erzähler gewohnheitsmäßig zum Dämmerschoppen wählt, spielt sich alles ab. Ein Geschehen, das ausschließlich aus Erinnerungen, Beobachtungen und Reflexionen besteht.  

Der (aus der „Kolonial- und Konsulatssphäre“ stammende) Protagonist ist zwar nicht mit dem Autor identisch, teilt aber seine Weltsicht. Sich selbst beurteilt er im skeptischen Bewußtsein, den größten Teil seines Lebens hinter sich zu haben, wobei, „eine große Gutwilligkeit dazu gehörte, es als fruchtbar zu erklären“. Nach Beendigung globaler Wanderjahre hat er sich in einer Mittelstadt niedergelassen, nahe wie nie zuvor am „bürgerlichen und menschlichen Kern einer Gemeinschaft“, um sich zu „erneuern“ und abermals die „Grundfrage der menschlichen Existenz“ zu prüfen: Was berechtigt die weißen „Völker, die übrigen zu leiten“? 

Dabei führt er ein mimikryhaftes Doppelleben in einer Wohnung, die nach hinten zum Hof hinausgeht, „auch, um verborgen zu bleiben“. Er gibt sich höflich, aber wenig kontaktfreudig, hält kein Telefon aus Sorge vor Verabredungen. Dabei wahrt er jedoch die Maske vorgegebener Korrektheit: „Zu den Gesellschaftsabenden ging ich regelmäßig, erhob das Glas auf das Wohl der Herren, besprach mit den Damen die zur Diskussion stehenden Themen und ließ das Blumenmädchen nicht vorbei“.

Nihilistischer Sarkasmus eines traurigen Snobs

Abends sitzt er in einer Weinstube als kleinster überhaupt noch Kommunikation ermöglichender Zelle, vermeidet Gespräche und beobachtet stattdessen. Die Musterung seiner Umgebung hat etwas von einer zoologischen Studie. Nicht Individuen werden beurteilt, sondern mehr oder minder austauschbare, mit fremdem Blick sezierte Gattungswesen: „An einem Nebentisch saßen drei Herren, aßen Ragout aus Muscheln, erzählten, scherzten mit der Wirtin, ein heiterer Kreis. ‘Lieber gut, aber dafür ein Jahr länger’, äußerten sie, handhabten das Eßgerät, Gabeln, zwischen Brötchenabbiß, dazu Pokal, dann wieder bogen sie die Schenkel aufwärts und traten aus. An der Schulter gelöste Gliedmaßen, unten Gamaschen. Ein Hund Krause, der gewaschen werden müsse, zum bevorstehenden Fest sei die Säuberung angezeigt, kehrte immer wieder. Aschenzuwachs am Glimmstengel, Saugen, Bemerkungen hin und her – so verging ihnen der Abend, verteilte sich das Ungewisse, gliederte sich die Zeit. / Dies also waren drei Gegenwartserwählte, Genossen, Geschichtsträger, Leidenschaftsfanale, mit ihren Zügen war ihnen aufgegeben, alles auszudrücken, was die Existenz ihnen entgegenwarf: Genuß, wippiges Lachen, Niederkämpfen der Konkurrenz, wirtschaftliche Triumphe und wiederum vor den Witwen von Geschäftsfreunden Beileid.“ 

Was begründet solche jegliche Gemeinschaft verweigernde, misanthropische Distanz? Bleiben wir in der „Handlung“, äußert sich hierin der nihilistische Sarkasmus eines traurigen Snobs, den nichts mehr zu fesseln vermag. Erweitern wir die Perspektive ins Zeitgeschichtlich-Autobiographische reagiert hier ein gänzlich Desillusionierter auf seine Schock-erfahrungen im Dritten Reich. Dabei hatte Benn selbst sich anfangs sogar für etwa anderthalb Jahre zu Hitler bekannt. In dessen Machtübernahme wollte ein künstlerischer Décadent, der die Welt zuvor mit literarischem Röntgenblick nicht zuletzt als Latrine oder „Krebsbaracke“ wahrgenommen hatte, wenigstens einmal historische Größe erleben. 

Was folgte, war ein kurzer Rausch masochistischer Gemeinschaftssehnsucht, wobei er sich einredete, ein Intellektueller von „Klasse“ müsse das Opfer an Vernunft, menschlichen Beziehungen und liberalen Privilegien bringen und sich konstruktiv zum neuen Staat verhalten: „Unser aller Leben und Existenz hängt davon ab“, schrieb er im April 1933. „Die Geschichte und ihre Folgen sind viel ernster und abgründiger als wir lange dachten.“ Und im Oktober forderte er in einem Brief an Frau Hindemith, sich für ein (notfalls auch tragisches) Schicksal zu entscheiden: „Hier ist Stoff und inneres Erlebnis – ran! Hier ist Geschichte – ertrage sie. Hier ist Schicksal – friß Vogel oder stirb! Gefahren, Untergang – liebe sie! Amor fati –‚ ‘dennoch die Schwerter halten’.“ 

Doch bereits am 27. August 1934 bekannte er Ina Seidel: „Ich lebe mit vollkommen zusammengekniffenen Lippen, innerlich und äußerlich. Ich kann nicht mehr mit. Gewisse Dinge haben mir den letzten Stoß gegeben. Schauerliche Tragödie! Das Ganze kommt mir allmählich vor wie eine Schmiere, die fortwährend ‘Faust’ ankündigt, aber die Besetzung langt nur für ‘Husarenfieber’. Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus. Aber es ist noch lange nicht zu Ende.“

Nein, das war es noch nicht. Denn nun geriet zunächst der Autor als „Kulturbolschewist“ und Verfasser lyrischer „Ferkeleien“ selbst unter Beschuß und mußte sich im militärärztlichen Dienst vor weiteren Nachstellungen verschanzen. Solche praktischen Erfahrungen mit Geschichte im Alltag mündeten nun endgültig in Benns Weg nach innen, den er nie mehr verließ. Sie machten ihn sogar zum Prototyp einer bestimmten Richtung der Inneren Emigration.

Wortkaskaden in der Tradition von Céline

Insbesondere der heroischen Vorstellung von den großen historischen Persönlichkeiten galt in „Weinhaus Wolf“ sein polemischer Rundumschlag, wenn nicht der Geschichte selbst: „Handeln ist Kapitalismus, Rüstungsindustrie. Malplaquet – Borodino – Port Arthur –: 150.000 Tote, 200.000 Tote, 250.000 Tote, –  niemand kann die Geschichte mehr anders sehen denn als die Begründung von Massenmorden: Raub und Verklärung –: der Mechanismus der Macht. Und was sie aufzeichnet, ist keineswegs das volkhafte Gedächtnis der Nationen, sondern ihre Witzblätter. Schlägt man sie 20 Jahre nachher auf, erinnert man sich an die Moden der Kriegswitwen, doch an den Sinn der Schlachten längst nicht mehr. Ein Granatsplitter als Berlocque am Bauch der Accapareurs, der Haifische, der Kriegsgewinnler, wenn sie beim Tanztee eine Nutte köderten, das bleibt, das ist aere perennius, das überdauert die Generalstäbe, das ist der Fahnennagel der Geschichte. […] Wer der Gegenwart gar nichts zu bieten vermag, der sagt Geschichte! Alles Rom, alles Rubikon! Die Fresse von Cäsaren und das Gehirn von Troglodyten, das ist ihr Typ! Kriege, Knuten, Tyrannen, Seuchen, um die Massen in Schach zu halten, […] Wille und Macht –, was für Aufdrucke für diese Bouillonwürfel! Auf dem Tisch gratis Kolonialwaren und unter dem Tisch angeeignete Perserteppiche: das ist das Tatsächliche der Geschichte. Was sie zerstört, sind meistens Tempel, und was sie raubt, ist immer Kunst.“ 

Der innere Monolog entfesselt die zornige Suada eines total Frustrierten. Und es ist, vor allem als Vorschau auf das, was bald kommen sollte, nichts weniger als Pose. Literarisch wiederum sieht sich diese barocke Folge raffinierter Wortkaskaden in der Tradition eines Ferdinand Céline, der sich ähnlich streitbar geradezu auskotzte. Aber selbst dieser Text, der aller Hoffnung abschwört und die historische „Abendstunde“ gekommen sieht, entdeckt in der illusionslosen, formverhafteten passiven Beobachterrolle des Außenseiters nochmals ein letztes menschliches Aufblühen: „Nur nicht handeln! Wisse das und schweige. Asien ist tiefer, aber verbirg es! Stelle Dich geistig den Dingen, es wird weitergetragen, es prägt mit am Sein. […] Denke immer: die Verwandlung! Auch wir haben Zeichen! Man muß sehr viel sein, um nichts mehr auszudrücken. Schweige und gehe dahin.“ 

Manche Verächter der Inneren Emigranten spotteten über deren angeblich leere Schubladen, was substanzreiche Texte betrifft. Benn müssen sie da wohl ausnehmen.






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Historiker und Germanist. Seine Serie zu Schlüsseltexten der Inneren Emigration wird in loser Folge fortgesetzt.