© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 03/20 / 10. Januar 2020

Den Stuttgarter Bopser hinunterrutschen
Zeitalter kommunikativer Täuschungen: Der Schriftsteller Frank Rudkoffsky hat einen Roman zum Megathema „Fake“ vorgelegt
Felix Dirsch

Der Fake-Begriff hat längst die Sphäre der Medientheorie verlassen und ist in die Alltagssprache übergegangen. Seine inflationäre Verbreitung ist ein eindringliches Zeichen für die Situation des Menschen im Zeitalter omnipräsenter kommunikativer Fälschungsmöglichkeiten. Wo Wahrheit und Lüge immer schwerer zu unterscheiden und zu überprüfen sind, steht in besonderer Weise die Identität des Menschen auf dem Spiel. Den technischen Fragen und Problemstellungen folgen die ethischen auf dem Fuße.

Zu den belletristischen Arbeiten, die dieses Thema in letzter Zeit behandelt und damit Aufsehen erregt haben, zählt Frank Rudkoffskys neuester Roman. Es ist sein zweiter, sonst verfaßt er auf seinem Blog Beiträge zur Gegenwartsliteratur, und er war Mitherausbeger der E-Book-Anthologie „Willkommen! Blogger schreiben für Flüchtlinge“.

Zeitlich eingegrenzt ist seine Erzählung auf die Phase von November 2013 bis August 2015, chronologisch und inhaltlich also vor den sich überstürzenden politischen Ereignissen im Spätsommer und Herbst 2015. Über weite Strecken herrscht Alltäglichkeit vor. Ein Paar, beide Mitte Zwanzig, erlebt die (zwiespältigen) Freuden des Elternseins – ein nachhaltiger Einschnitt in ihrem Leben. Vor dieser biographischen Zäsur schmiedeten sie Reisepläne, auch die Karriereplanung war in vollem Gange. Nunmehr macht sich eine gewisse Ernüchterung breit. Der kleine Max wirbelt alles durcheinander. Um ihn dreht sich alles. Auch die Großeltern melden ihre Ansprüche an und mischen sich ein. Die Konfusion ist perfekt.

Rasch erreichen Jan und Sophia die Grenze ihrer Belastbarkeit. Und doch muß das Leben weitergehen. Der junge Vater Jan hat Schwierigkeiten, eine dauerhafte Anstellung als Journalist zu bekommen, von der die Familie leben kann. Er und seine Lebenspartnerin Sophia, bei Daimler eine Zeitlang in exponierter Position, suchen im Internet ein Ventil, um dem schwer erträglichen Druck zu entkommen.

Zu den durchaus ansprechenden Passagen des Textes zählt die Darstellung der Beziehungsdynamik zwischen Jan und Sophia. Der Leser erfährt immer wieder, wie es zwischen den beiden knistert, oder auch, wie sie kurz davor sind, sich anzuschreien und dies auch hin und wieder tun. Zum großen Knall kommt es jedoch nicht. Es wird schnell klar, daß trotz der bisweilen konfrontativen Situation die Geschichte der jungen Eltern ein wenig dahinplätschert. Sie gelangt höchstens an ein schales Ende.

Jan legt sich eine gefakte Existenz im rechten Milieu zu, um Informationen für eine authentische Reportage zu erhalten. Er freundet sich mit einem Pegida-Anhänger an, der dem Klischee eines populistischen „Bedauerlichen“ entspricht und als Absteiger porträtiert wird. Auf diese Weise gewinnt Jan Eindrücke von der rechten „Widerstandsbewegung“. Als Agent provocateur kommen ihm Parolen wie „Nieder mit der Lügenpresse“ leicht über die Lippen. Einige Verwicklungen resultieren aus dieser Undercover-Tätigkeit.

Dieser Abschnitt zählt zu den zentralen des Romans, will er doch die Signatur des aufgewühlten Zeitgeistes Mitte der 2010er Jahre auf den Punkt bringen und mit einer Botschaft versehen: Die Wütenden und Entrüsteten entladen sich ebenso hemmungslos auf der Straße wie im Netz. Natürlich fehlen auch Trolle nicht, die die beiden Hauptfiguren in die Schußlinie bringen. Die Guten – nicht zuletzt Jan und Sophia – sind auf der Suche nach einem moralischen Kompaß, der schwerer denn je zu finden scheint.

Einsamkeit als Preis für die Anonymität

Auch Sophia läßt sich auf waghalsige Unternehmen im Netz ein. Sie legt sich Fake-Profile zu und schreibt provozierende Kommentare in diversen Internetforen. Ihr Hang zum Trollen droht zum Verhängnis zu werden. Ohne Netz scheint es aber auch nicht zu gehen – der Verlust des Ventils löst zunehmend Angstzustände in ihr aus. Die Welt des digitalen Hasses, im Text ein wenig überpointiert, läßt die Sensible nicht kalt. Auch Anonymität hat ihren Preis – und sei es nur zunehmende Einsamkeit.

Der Autor bemüht sich auch in seinem zweiten Werk, sprachliche Duftmarken zu setzen, die häufig aber nicht gelingen. Die Protagonistin läßt sich über ihren schrumpeligen „Nacktmullbauch“ aus und äußert positiv, daß sich ihre „überprallen Brüste“ noch halbwegs kaschieren ließen. Da ist die Rede vom „nackten Arsch“, mit dem sie den „Stuttgarter Bopser hätte hinunterrutschen können“, und so geht es weiter. Derartige Passagen nehmen einen großen Raum ein.

Neben dem Kind und den ungewissen Karriereaussichten ist der Roman voll von Problemen, die die Protagonisten außerhalb der digitalen Welt gar nicht hätten: Der Instagram-Feed Sophias quillt über mit Fotos von kinderlosen Bekannten, ständig besucht sie die Facebook-Seite von „Germany’s Next Topmodel“; ein Virus breitet sich im Mütterforum aus und verseucht auch andere Foren. Von ihrem Endomondo-Profil wird ein Screenshot angefertigt, so daß sie nicht mehr mit GPS-Erfassung laufen will. Etliche Shitstorms halten die junge Mutter auf Trab. Das Netz ist (fast) alles.

Am Ende scheint manches in der tragikomödiantischen Darstellung doch wieder ins Lot zu geraten. Jans Energieschub gibt Auftrieb, Sophia macht eine Erbschaft – nicht übermäßig viel, aber für einen Neubeginn (vielleicht in einer anderen Stadt) reicht die Summe. Das Beziehungskarussell dreht sich wieder neu.

Trotz der unstrittigen Unterhaltsamkeit ist Rudkoffsky der definitive Roman über das Megathema „Fake“ nicht gelungen. Zu unausgegoren erscheinen an manchen Stellen seine Wortexperimente, zu groß der Stellenwert von Klamauk und Nichtigem. 

Frank Rudkoffsky: Fake. Roman, Verlag Voland & Quist, Berlin, Dresden und Leipzig 2019, gebunden, 236 Seiten, 20 Euro