© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 04/20 / 17. Januar 2020

Sachbeschädigung oder Kunstfreiheit?
Sprayer-Subkultur: Graffiti erleben ein umstrittenes Revival
Tobias Schmidt

Wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert, macht sich strafbar – so will es Paragraph 303 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs, der sogenannte „Graffiti-Paragraph“. Die vor vielen Jahren eingeführte, juristisch drollige Formulierung sollte zumindest strafrechtlich einen Schlußstrich unter die Problematik ziehen, ob das Beschmieren/Verschönern fremden Eigentums strafbare Sachbeschädigung ist oder Ausdruck strafloser Kunstfreiheit. 

Ob die klar geregelte Strafbarkeit die Beliebtheit des Graffiti gebrochen hat? Wohl nicht! Graffiti erleben mancherorts ein Revivial. Die mal mehr, mal weniger ansehnlichen individuellen Kürzel für die Urheberschaft eines Graffiti („Tag“) sind allgegenwärtig, nicht nur in deutschen Städten. Einen Tag nachzuahmen wird in „Maler“-Kreisen mißbilligt und sogar bestraft. Mißbilligung dürfte regelmäßig auf seiten der Geschädigten herrschen, die nicht damit einverstanden sind, daß ihre Hauswände und Züge beschmiert werden. An Brücken gehören Tags schon zur Folklore, neue Brückenpfeiler werden nicht selten schon verziert, bevor der Streckenabschnitt eröffnet ist.

Die Berliner Graffiti-Crew One United Power („1Up“) gilt momentan als Maß spektakulärer Aktionen. Einfach nur einen geschwungenen Buchstaben an die Rückwand der Schulturnhalle sprayen? Immer noch beliebt, aber längst nicht mehr Maßstab. Durch spektakuläre waghalsige Aktionen, professionelle Videoproduktionen und eine ungeheure Masse an Bildern („Bombings“), die sie rund um den Globus von dem „Ghost Tower“ in Bangkok bis zu einem Schiffswrack in Griechenland „malen“, sind sie inzwischen international bekannt. Die Youtube-Videos werden zu Hunderttausenden geschaut. Doch bei aller Faszination: „Illegal und strafbar bleibt das Ganze natürlich trotzdem. Deswegen agiert die Crew, die aus Dutzenden Männern und Frauen besteht, immer im Schutz der Anonymität“ schreibt das Vice-Magazin.  Bei 1Up wird nicht nur gesprüht. Mit Drohnenflug- und Filmtechnik werden die Bilder professionell in Szene gesetzt. Die zu bearbeitenden Kulissen („Spots“) werden vorher tagelang durch Teams ausgekundschaftet. 

Die Gesetze sind eigentlich eindeutig 

 Künstler für die einen, Vandalen für die anderen. Die Crew umgibt der Reiz des Geheimen und Verbotenen. Einschließlich Doppelleben, wie ein Mitglied Vice erzählt: „Nur bei den wenigsten wissen Chef und weiteres Umfeld irgendetwas von dem Doppelleben. Die ganze Nacht in dreckigen Tunneln rumkriechen, sich in einem Gebüsch verstecken und am nächsten Tag wieder früh zur Arbeit und dann so tun, als wäre man total fit und ausgeschlafen.“ 

Je halsbrecherischer die Aktionen sind, bei denen man sich an Gebäuden abseilt oder auf S-Bahnen surft, desto eher geraten die Akteure ins Visier der Polizei. Und selbst die im Ausland hinterlassenen Graffiti könnten theoretisch nach Paragraph 7 Abs. 2 StGB sogar in Deutschland verfolgt werden.

Mancher sieht es tiefenentspannt, andere brauchen nach eigener Schilderung vor der Tatbegehung einen Beruhigungsschnaps. Angst ist ständiger Begleiter – Reue eher weniger. Strafen, Verdonnern zur Übernahme der Reinigungskosten oder einfach beim Erwischtwerden mal eins auf die Fresse zu bekommen – davor sind nicht einmal die 1Up-Mitglieder gefeit. Ebenso ist es nachvollziehbar, daß die Berliner Verkehrsbetriebe nicht so begeistert von rundum beschmierten U-Bahnen (ein „Wholecar“ oder „Train“) sind. Klar ist aber auch, daß die meisten Sprayer ihre Werke gar nicht als Sachbeschädigung sehen und die Verärgerung nicht das Ziel ist. 

Die Kosten von professioneller Graffiti-Beseitigung liegen bei 20 bis 30 Euro pro Quadratmeter, können bei schwer zu reinigenden Flächen sogar 100 Euro betragen. Das Szeneportal urbanshit.de ärgert sich, „aus Gründen der Abschreckung und Kriminalisierung von Graffiti“ würden Reinigungskosten bewußt zu hoch angesetzt werden. Und manchmal, wie im Streitfall einer Gruppe Cottbusser Polizisten, die am Rande eines Anti-Braunkohle-Protestes vor einem angeblichen „rechten“ Schriftzug posierten, bekommt Graffiti sogar eine politische Dimension.

Aussterben wird diese „Aktionsform“ voraussichtlich so schnell nicht: Vom Tag auf der Schulklotür über ein Kürzel politischer Initiativen bis zum Gruppenbild von Fußball-Ultras auf gegnerischem Terrain. Manch einer ist damit berühmt und reich geworden und wird wie der britische „Streetart-Künstler“ Banksy gefeiert. Andere leben ihre „Rebellion“ weiter im stillen aus.