© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Plötzlich sind die Kompetenzen umverteilt
Rußland: Wladimir Putin überrascht in seiner Rede an die Nation mit einer Verfassungsreform
Paul Leonhard

Wladimir Putin lenkt die Geschicke des Riesenreiches seit 20 Jahren und er läßt keinen Zweifel, daß er das auch weiterhin zu tun gedenkt. Operation Machterhalt nennen daher politische Analysten auch die jüngsten Ankündigungen des 67jährigen. In seiner Rede an die Nation teilte Rußlands Präsident überraschend mit, daß es „in der Gesellschaft klare Forderungen nach Veränderungen“ gebe und daher die Verfassung umfassend reformiert werden müsse.

 Während sich westliche Kremologen von diesem Schachzug komplett überrascht zeigten, schließlich scheint die Lage in Rußland trotz schlechter Wirtschaftsdaten stabil und die nächste Präsidentenwahl steht erst in drei Jahren an, trat prompt das gesamte Kabinett Dmitri Medwedews zurück, um, so der bisherige Premier, dem Präsidenten völlig freie Hand zu geben.

 Es stehe eine „Änderung der Machtbalance im Land“ an, die Regierung, Parlament, Präsidentenamt und Rechtssystem betreffen würde, sagte Medwedew kryptisch. Es wird um eine Umverteilung der Kompetenzen gehen, weil das Parlament gegenüber dem Präsidenten gestärkt werden soll. Welche Rolle Putin dabei künftig spielen will, darüber wird derzeit viel spekuliert.

 Die einen unterstellen dem 67jährigen, daß hinter den Reformplänen nichts anderes stecke als die „Absicherung der lebenslangen Herrschaft“. So formuliert es Oppositionsführer Alexei Nawalny. Andere glauben, daß der starke Mann im Kreml amtsmüde sei, aber seine Machtfülle nicht einfach abgeben kann, ohne daß das System auseinanderfallen würde, und er daher die Weichen für einen allmählichen Übergang stellt.

Putin hat seine Zukunft sorgsam geplant 

In elf Punkten will Putin die Verfassung reformieren. So soll die maximale Amtszeit des Staatsoberhauptes auf zwei Legislaturperioden beschränkt werden – und nicht wie bisher auf zwei aufeinanderfolgende. Künftig soll nicht der Präsident, sondern die Duma den Premier, dessen Stellvertreter und die Minister ernennen. Und der bisher unbedeutende Staatsrat, dem die Gouverneure und die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern angehören, soll Verfassungsrang erhalten. Außerdem dürfen nur Personen Präsident werden, die mindestens 25 Jahre in Rußland gelebt und niemals einen ausländischen Paß besessen haben. Internationales Recht soll künftig nur noch gelten, wenn es nicht in Widerspruch zur russischen Verfassung steht.

 Konkretes soll eine 70köpfige Gruppe aus Politikern und Personen des öffentlichen Lebens bis April ausarbeiten. Anschließend will Putin das Volk darüber abstimmen lassen. Der Gruppe gehören auch der Schriftsteller Sachar Pripelin, ein Stalin-Verehrer, sowie die erste Frau im Weltall, Valentina Tereschkowa, an. 

 Kein Zweifel besteht darin, daß Putin die anstehenden Veränderungen sorgsam im engsten Kreis geplant hat. Davon kündet die Ernennung von Michail Mischustin zum neuen Ministerpräsidenten. Der bisherige Chef des Föderalen Steuerdienstes (FTS), der seit Februar 2009 zum Beraterkreis des Präsidenten gehört, gilt als Modernisierer der Verwaltung und wird von den regierungsnahen Medien als eine Person geschildert, „die die Situation im Land und in jeder Ecke des Landes genau kennt“.

 Medwedew dagegen führt jetzt als Putins Stellvertreter den Sicherheitsrat. Bei ihm laufen damit die Sicherheits- und Geheimdienststrukturen der Russischen Föderation zusammen. Der Sicherheitsrat soll ein neues Machtzentrum werden. Dazu paßt auch, daß Medwedew Vorsitzender der Regierungspartei Geeintes Rußland bleibt, die mit ihrer Zweidrittelmehrheit in der Duma ausreichend Stimmen hat, die Verfassung zu ändern, und damit die parlamentarische Basis Putins bildet.

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