© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Die Neurose heilen
Instrumentalisierung eines Großverbrechens: Die Erinnerung an den Holocaust sollte historisch nüchterner erfolgen
Thorsten Hinz

Trauer, Opfergedenken und historische Forschung bilden nur einen Teil des Auschwitz- und Holocaust-Diskurses. Außerdem ist er ein Schlachtfeld, auf dem um Deutungshoheit, also um Macht gerungen wird. Es geht um Geschichts- und Realpolitik, um normative, emotionale, transzendente Bedürfnisse in einer unübersichtlichen und gründlich entzauberten Welt. Wer die Rede über Auschwitz definiert, der verfügt national wie international über eine politische und geistig-kulturelle Machtressource.

Vor genau 20 Jahren fand in Stockholm eine Internationale Holocaust-Konferenz unter Beteiligung von Staats- und Regierungschefs und des Uno-Generalsekretärs statt. In der verabschiedeten Erklärung heißt es: „Der beispiellose Charakter des Holocaust wird immer universelle Bedeutung behalten“ und müsse „in unserem kollektiven Gedächtnis für immer eingebrannt sein“. Daraus abgeleitet wurde die „moralische Verpflichtung unserer Völker und die politische Verpflichtung unserer Regierungen“ zum Kampf gegen „Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit“. Als zentrale Aufgabe  hervorgehoben wurde die politische Bildung der Jugend.

Die sogenannte „Holocaust Education“ ist ein offizielles Projekt der Unesco. Sie verfolgt das Ziel, „Lernende mit Wissen, Kompetenzen und Handlungsoptionen auszustatten, um zu kritischem Denken zu befähigen und verantwortungsvolle Weltbürger hervorzubringen, welche die Menschenwürde achten sowie Vorurteile und Ausgrenzung – die in Gewalt und Völkermord münden können – ablehnen“.

An die „Holocaust Education“ schließt die „Global Citizenship Education“ an. So heißt die politische Bildung im globalen Maßstab. Durch sie sollen „Lernende (...) in die Lage versetzt werden, ein Zugehörigkeitsgefühl zur Weltgemeinschaft zu entwickeln, sich zu engagieren und eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu übernehmen, um einen Beitrag zu leisten zu einer friedlichen, gerechten Welt, in der ökologische Ressourcen bewahrt werden“. Anläßlich des 75. Jahrestags der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz veranstaltet die Unesco an ihrem Hauptsitz in Paris einen Gedenkakt, zwei Ausstellungen und eine Konferenz, in der über Mittel und Wege diskutiert wird, die Erinnerung an den Holocaust dauerhaft im „kollektiven Gedächtnis“ zu fixieren.

Was an den Deklarationen, Beschlüssen und Projektbeschreibungen immer wieder besticht, ist das Neben- respektive Ineinander von bürokratischer und sakraler Sprache. Der suggestive Rekurs auf den Holocaust verleiht den administrativen Planungen, Normierungen und Anweisungen den Anschein höherer Weihen, einer geheiligten Aura, die ihre Evidenz in sich selbst trägt und die anzuzweifeln sittenwidrig wäre, weil sie etwas unzweifelhaft Gutes transportiert.

Die philosophische Basis für das rhetorische Verfahren schuf Hannah Arendt durch die Umdeutung des Kantschen „radikal Bösen“. Bei Kant bezeichnet der Begriff den „verderbten Hang im Menschen“, ein „radikales, angebornes (…) Böses in der menschlichen Natur“, das ihn dazu verführe, „gesetzwidrigen Maximen“ zu folgen, obwohl er sich „des moralischen Gesetzes bewußt“ sei. Es handelt sich gleichsam um eine anthropologische Konstante. Nach Arendt hat der Mord an den europäischen Juden (allerdings auch der GuLag) dagegen ein nach menschlichen Maßstäben „Unmögliches möglich“ gemacht und ein „unbestrafbares, unverzeihlich radikal Böses“ ans Licht gebracht, „das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier,  Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit“ usw., weshalb darauf „alle menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind“.

Arendts Beschreibung zielt auf das, was Kant „eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache“ nennt, die Epiphanie „einer gleichsam boshaften Vernunft (ein schlechthin böser Wille)“, in welcher „der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder (...) erhoben, und so das Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht würde“. Das aber sei, so Kant, auf den Menschen gar nicht anwendbar. Was Arendt formuliert, ist demnach kein „radikal“, sondern ein außermenschliches, ein „absolut Böses“. Sie schrieb dem historischen Faktum des Judenmords eine metaphysische Dimension zu, die letztlich über ein religiöses Potential verfügt.

Zumindest wird diese Schlußfolgerung häufig gezogen. „Auschwitz kann weder erklärt werden, noch kann man es sich vorstellen (...) Der Holocaust steht außerhalb der Geschichte“, meinte Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel. So sah es auch Claude Lanzmann, Regisseur des Films „Shoa“, der für ein Bilderverbot eintrat und in Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ und Roberto Benignis „Das Leben ist schön“ eine Blasphemie erblickte.

Der Historiker Dan Diner, der den Begriff „Zivilisationsbruch“ geprägt hat, findet den Holocaust „gleichsam aus seiner geschichtlichen Verankerung herausgerissen“, weil er „ganz jenseits von Konflikt, Gegnerschaft oder politischer Feindschaft“ erfolgt sei. „Nicht nur das sakral imprägnierte, auch ein historisch informiertes Vorstellungsvermögen glitt an dem alle vorausgegangene Erfahrung dementierenden Geschehen ab“, so daß „semantische Welten in sich zusammen(brechen)“. Der Literaturprofessor Geoffrey Hartman, Mitbegründer eines Video-Archivs zum Holocaust, befand, daß er „von entscheidenderer Bedeutung ist als ein Erscheinen Gottes“.

Ernst Nolte erblickte in solchen Thesen und Ausdeutungen die Neigung, ein geschichtliches Ereignis als „Numinosum“, als schaurig-göttliche Erscheinung zu behandeln, dem man sich nur in religiöser Demut, nicht aber mit dem Anspruch des Wissenschaftlers nähern dürfe. Der Versuch, die durch den Holocaust unmittelbar ausgelösten „Emotionen auf die Nachlebenden zu übertragen“, käme dem einer neuen Religionsstiftung gleich. Er hielt dagegen, daß „noch die unmenschlichste Tat im anthropologischen Sinne ‘menschlich’ ist“ und „daß alle menschlichen Phänomene in Relation zu anderen Phänomenen stehen, daß sie aus diesen Beziehungen heraus verstehbar sein müssen“. Im Holocaust realisiere sich der „Begriff Kants von der ‘Verderbtheit’“, weshalb er „als das radikal Böse gelten“ müsse, wohingegen ein „absolutes Böses“ sich nur durch die „Ausblendung der Zusammenhänge“ konstruieren ließe. Er stünde im historischen Kontext des Europäischen Bürgerkriegs zwischen 1917 und 1945 und der vom Bolschewismus ausgehenden Vernichtungsdrohung. Nolte historisierte den Holocaust, indem er ihn in ein transnationales Interaktionssystem stellte. Das wurde als unverzeihliches Skandalon wahrgenommen und machte ihn dauerhaft zur Unperson.

Das war ein Lehrstück. Jedenfalls stellt die umfangreiche Holocaust-Forschung den sakralen Diskurs nicht in Frage. Dieses „Framing“ kommt neben politischen Interessen einem menschlichen Bedürfnis entgegen. An den Umständen irre gewordene Individuen und Gesellschaften, die sich als Kontrastfiguren zu einem „absolut Bösen“ definieren, finden als Streitmacht des „absolut Guten“ zu neuer Gewißheit und Stärke. In solcher zwanghaften Fixierung liegt neben der Instrumentalisierung eines Großverbrechens die Gefahr, erst recht die innere Freiheit zu verlieren. Daraus folgen Realitätsverlust, eine exzessive Gesinnungsethik und Selbstermächtigung, die zur Angleichung an das führen kann, was man zu bekämpfen meint.

Ein diesjähriger Preisträger, der vom Internationalen Auschwitzkomitee mit der „Gabe der Erinnerung“ geehrt wurde, weil er „mit Mut, Kreativität und Lebensfreude antisemitischem und rechtsextremem Haß entgegen(tritt) und (...) die Werte der Demokratie“ verteidigt, hatte zuvor über Twitter verkündet, die AfD bestehe „aus Menschen, die ihr Menschsein verwirkt haben“. Das Auschwitz-Mantra wird herangezogen, die dysfunktionale und teilweise rechtswidrige Migrationspolitik zu legitimieren. Staatliche Maßnahmen und Gesetze fördern die Neigung, Einwände und Gegenargumente mit dem Vorwurf der „Volksverhetzung“ zu unterdrücken. Die Versuche, Auschwitz als Gründungsmythos für ein vereintes Europa zu implementieren, stellen daher eher eine Drohung als ein humanes Versprechen dar. Die Erwartung schließlich, ausgehend von Europa und dem Westen die ganze Welt mit der „Holocaust Education“ zivilreligiös zu missionieren, wurde schwer enttäuscht.

Stattdessen erlebte die Hypermoral ihren Durchmarsch und wurden die äußeren Abwehrkräfte der europäischen Staaten unterminiert. Mit dem Ergebnis, daß sich ausgerechnet die direkten Erben der Holocaust-Opfer am stärksten durch die Massenzuwanderung bedroht sehen. Die Zivilgesellschaft, die sich im Zeichen von Auschwitz formiert hat, kann die Schwäche des Staates nicht ausgleichen. In Bewährungssituationen erweist sie sich als Versammlung von Mitläufern, die sich den neuen Kräfteverhältnissen bis hin zur Selbstverleugnung und zum Selbsthaß anpassen.

Um die Neurose zu heilen, müßte die Emanzipation vom quasi-religiösen Schauder zugunsten historischer Nüchternheit erfolgen und die besitzergreifende Erinnerung an den Holocaust in eine distanzierte überführt werden. Andernfalls wird sie für die europäische und ganze westliche Welt zum Schwarzen Loch.