© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Verfassungsschutz auf der Kippe zwischen Verteidigung und Schädigung der Demokratie
Rechtsstaatlich einbinden
Dietrich Murswiek

Das Grundgesetz hat die deutsche Demokratie vor dem Hintergrund des Scheiterns der Weimarer Republik und der Erfahrungen mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts als „streitbare“ oder „wehrhafte“ Demokratie konstituiert, die es nicht zulassen will, daß ihre Fundamente – die Garantien der Menschenwürde und der individuellen Freiheit sowie die Demokratie selbst einschließlich ihrer notwendigen Fundierung in einem freien politischen Willensbildungsprozeß, in der Chancengleichheit der politischen Parteien, in freien und gleichen Wahlen, all das also, was das Grundgesetz unter dem Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zusammenfaßt – von ihren Feinden beseitigt werden.

Daß der Staat seine eigene Existenz und seine durch die Verfassung konstituierte rechtliche Grundordnung und Staatsorganisation gegen gewaltsame Umsturzversuche schützt, ist eine Selbstverständlichkeit. Was Deutschland insoweit von den meisten anderen Ländern unterscheidet, ist der Umstand, daß die Verfassung nicht nur Vorkehrungen gegen eine gewaltsame Revolution, sondern auch gegen die „legale“ Revolution trifft, nämlich dagegen, daß die fundamentalen Verfassungsprinzipien von einer Regierung oder einer Parlamentsmehrheit beseitigt werden, die durch demokratische Wahlen – nicht durch Gewaltanwendung – an die Macht gekommen ist. Die fundamentalen Verfassungsprinzipien sind gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich; sie können mit keiner noch so großen Mehrheit beseitigt werden. Und politische Parteien, die darauf ausgehen, diese Prinzipien zu beseitigen, sind verfassungswidrig (Art. 21 Abs. 2 GG); sie können verboten werden.

Dem Schutz der Verfassung dienen insbesondere die speziellen Verfassungsschutzbehörden, nämlich das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Landesverfassungsschutzbehörden. Im öffentlichen Sprachgebrauch wird der Begriff „Verfassungsschutz“ meist mit den Verfassungsschutzbehörden gleichgesetzt.


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Nach der Konzeption des deutschen Verfassungsschutzrechts sind die Verfassungsschutzbehörden keine Polizeibehörden. Es gilt das „Trennungsgebot“ (z.B. § 2 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG): Verfassungsschutz und Polizei sind organisatorisch getrennt. Der Verfassungsschutz hat keine operativen Gefahrenabwehraufgaben, sondern er ist lediglich für die Sammlung und Auswertung von Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen zuständig sowie für die Information der Regierung und der Öffentlichkeit über diese Bestrebungen – so die gesetzliche Konzeption. Präventionsmaßnahmen fallen in die Zuständigkeit der Polizei, soweit es um die Abwehr konkreter Gefahren – zum Beispiel durch Terroristen – geht. Für die Strafverfolgung sind auch bei verfassungsschutzrelevanten Straftaten die Strafverfolgungsbehörden zuständig. Und über Vereins- und Parteiverbote entscheiden Innenminister beziehungsweise das Bundesverfassungsgericht. 

Dennoch sind die Verfassungsschutzbehörden keine reinen Informationssammelstellen. Hinsichtlich seiner faktischen Wirkungen, aber auch nach Selbstverständnis und Intention der Verfassungsschutzbehörden, die sich selbst als „Frühwarnsystem“ begreifen, geht die Tätigkeit des Verfassungsschutzes über die reine Informationssammlung, -auswertung und -vermittlung weit hinaus: Zumindest die Information der Öffentlichkeit über die Beobachtung einer Organisation durch den Verfassungsschutz beziehungsweise über ihre Einstufung als extremistisch dient nicht lediglich der sozusagen neutralen Mitteilung von Tatsachen, sondern sie dient zugleich der Bekämpfung dieser Organisation. Der Verfassungsschutz spricht implizit ein amtliches negatives Werturteil und eine Warnung vor dieser Organisation aus.

Die Beobachtung von Parteien und ihre öffentliche Einstufung als „extremistisch“ sind wegen der herausragenden Bedeutung der Parteien für den demokratischen Willensbildungsprozeß und für die Durchführung von Wahlen besonders heikel.

Dies habe ich in Abhandlungen von 1997 und 2004 herausgearbeitet, und das Bundesverfassungsgericht hat dies bestätigt. Es hat sich deshalb auch meiner Auffassung angeschlossen, daß die Bewertung einer Organisation als „extremistisch“ im Verfassungsschutzbericht ein Grundrechtseingriff ist – mit der Folge, daß die Verfassungsschutzberichterstattung nunmehr erheblich intensiverer gerichtlicher Kontrolle unterliegt als zuvor.

Aber schon die Beobachtung einer Organisation ist ein erheblicher Eingriff in ihre Grundrechte beziehungsweise bei politischen Parteien in ihre Rechte aus Art. 21 Abs. 1 GG. Dies gilt nicht nur für die informationelle Selbstbestimmung, sondern auch für die Freiheit der politischen Betätigung. Denn diese ist erheblich beeinträchtigt, wenn sie im Bewußtsein der Beobachtung durch den Verfassungsschutz oder unter der Drohung mit möglichen Konsequenzen der Beobachtung ausgeübt werden muß. 

Die Beobachtung politischer Parteien und ihre öffentliche Einstufung als „extremistisch“ sind wegen der herausragenden Bedeutung der Parteien für den demokratischen Willensbildungsprozeß und für die Durchführung von Parlamentswahlen besonders heikel. Einerseits sind es vor allem die politischen Parteien, von denen Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen können, sofern man die Möglichkeit einer Beseitigung dieser Ordnung im Wege demokratischer Mehrheitsgewinnung und nicht Terrorismus oder gewaltsamen Umsturz in Betracht zieht. Denn nur politische Parteien und nicht andere Organisationen nehmen an Wahlen teil und können auf diese Weise die Macht im Staate erobern. 

Um der „Machtergreifung“ einer verfassungsfeindlichen Partei vorzubeugen und rechtzeitig Informationen über Pläne zur Beseitigung der grundlegenden Verfassungsprinzipien im Falle einer „Machtübernahme“ zu gewinnen, damit ein Parteiverbotsverfahren gemäß Art. 21 Abs. 2 GG eingeleitet werden kann, bevor es zu spät ist, läßt sich in Fällen hinreichend begründeten Verdachts die Beobachtung einer Partei rechtfertigen.

Wenn das Grundgesetz das Verbot einer Partei wegen ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Zielsetzung ermöglicht, setzt dies voraus, daß der Staat auch die Möglichkeit haben muß, sich die dafür erforderlichen Informationen zu beschaffen. Deshalb ist die Beobachtung einer Partei mit dem sogenannten Parteienprivileg, wonach eine Partei nicht als verfassungsfeindlich behandelt werden darf, solange das Bundesverfassungsgericht ihre Verfassungswidrigkeit nicht festgestellt hat, vereinbar. 

Ob dies auch für die amtliche Einstufung einer Partei als „extremistisch“ beziehungsweise „verfassungsfeindlich“, insbesondere im Verfassungsschutzbericht, gilt, ist umstritten. Geht man von der eingefahrenen Rechtsprechung aus, nach der das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nicht ausschließt, daß Regierung und Verfassungsschutz von ihnen als verfassungsfeindlich angesehene Parteien „politisch“ – also durch Anprangerung als „extremistisch“ – bekämpfen, dann hängt für die Demokratie viel davon ab, ob ausschließlich solche Parteien auf diese Weise bekämpft werden, die tatsächlich verfassungsfeindlich sind, die also gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen im Sinne der Verfassungsschutzgesetze verfolgen.

Wenn dies der Fall ist, verteidigt der Verfassungsschutz mit seiner öffentlichen Etikettierung der Partei als extremistisch die Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaats.

Wenn dies aber nicht der Fall ist, wenn also die hoheitlich mit dem Extremismus-Label versehene Partei in Wirklichkeit keine verfassungsfeindlichen Ziele anstrebt, dann fügt der Verfassungsschutz der Demokratie schwerwiegenden Schaden zu. Jedenfalls dann, wenn die betreffende Partei gute Wahlchancen hat, die durch das Eingreifen des Verfassungsschutzes in die öffentliche Meinungsbildung drastisch gemindert werden, führt eine unzutreffende Extremismus-Etikettierung zu einer schwerwiegenden Verzerrung des demokratischen Wettbewerbs, die sogar im Hinblick auf die Möglichkeiten der Regierungsbildung wahlentscheidend sein kann. 

Weil dies so ist, arbeitet der Verfassungsschutz dort, wo er seine Bekämpfungsfunktion wahrnimmt, an einer heiklen Grenzlinie: Die Richtigkeit seiner Einstufung einer Partei als extremistisch ist nicht nur eine Frage von rechtmäßig und rechtswidrig, sondern zugleich eine Frage von Verteidigung oder Schädigung der Demokratie. Der Verfassungsschutz ist bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe immer in Gefahr, die Demokratie zu beschädigen, statt sie zu schützen. Denn sieht man von der Möglichkeit des bewußten Einsatzes des Verfassungsschutzes zur Diskreditierung politischer Gegner ab, gibt es zwei nahe­liegende Möglichkeiten, aus denen es zu einer unzutreffenden Erhebung des Extremismus-Vorwurfes kommen kann:

Zum einen erlauben die Verfassungsschutzgesetze des Bundes und mancher Bundesländer die Berichterstattung im Verfassungsschutzbericht bereits in Verdachtsfällen. Es ist also möglich, daß eine Partei dort als extremistisch angeprangert wird, obwohl der Verdacht sich später als unbegründet herausstellt. 

Die Verdachtsberichterstattung in Verfassungsschutzberichten halte ich für grundsätzlich verfassungswidrig. Politische Opposition mit einer Herrschaft des Verdachts niederzuhalten, ist mit dem Demokratie­prinzip unvereinbar.

Zum anderen ist die Frage, ob eine Partei gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolgt, nicht immer einfach zu entscheiden. Wenn eine Partei sich nicht offen zu verfassungsfeindlichen Zielen bekennt, ist eine schwierige Beweisführung notwendig, die sich vor allem auf Äußerungen von Funktionären und Mitgliedern stützt. Hierbei kann es leicht zu Fehlbewertungen kommen – insbesondere dann, wenn schon über die rechtlichen Maßstäbe keine Klarheit besteht.


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Da der Verfassungsschutz immer auf der Kippe zwischen Verteidigung und Schädigung der Demokratie operiert, wenn er nicht von sich aus sozusagen einen Sicherheitsabstand zur Grenze der Rechtswidrigkeit einhält, ist eine strikte rechtsstaatliche Einbindung und Kontrolle seiner Tätigkeit ein zwingendes Erfordernis der Demokratie.

Die Verdachtsberichterstattung halte ich für grundsätzlich verfassungswidrig. Rechtsstaatlicher Verfassungsschutz darf nicht zu einer Diskreditierung politischer Konkurrenz auf Verdachtsbasis führen. Politische Opposition mit einer Herrschaft des Verdachts niederzuhalten, ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar.

Wenn die Verfassungsfeindlichkeit aus Meinungsäußerungen erschlossen werden muß, weil es an Bekundungen verfassungsfeindlicher Ziele seitens der Organisation fehlt, kann der Verfassungsschutz in die Versuchung geraten, bloße Meinungen statt politischer Ziele zu bewerten, Gesinnungskontrolle zu betreiben und politische Unkorrektheit zu sanktionieren. Wenn dem nicht durch klare rechtliche Maßstäbe und durch ihre strikte Beachtung begegnet wird, kann der Verfassungsschutz sich zu einem Instrument ideologisch begründeter Ausgrenzung politisch unerwünschter Kräfte entwickeln. Er würde dann nicht die Verfassung, sondern die etablierten Parteien schützen und damit selbst zum Problem für die freiheitliche demokratische Grundordnung werden. 

Um so erstaunlicher ist es, daß über die Bedeutung eines der Zentralbegriffe der Vorschriften, die zur Beobachtung durch den Verfassungsschutz und zur öffentlichen Berichterstattung ermächtigen, über die Bedeutung des Begriffs der „tatsächlichen Anhaltspunkte“ für verfassungsfeindliche Bestrebungen, bei den Verfassungsschutzbehörden und in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung keine Klarheit besteht, sondern eine eher intuitive und schlampige Anwendungspraxis vorherrscht, die nicht einmal zwischen Äußerungen, die das Ziel der Beseitigung eines Grundsatzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ausdruck bringen, und solchen Äußerungen unterscheidet, die lediglich eine Maßnahme fordern, welche im Falle ihrer Verwirklichung gegen einen der Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstieße.

Auch daß „tatsächliche Anhaltspunkte“ Tatsachen sind (die als Indiz für die Verfassungsfeindlichkeit der betreffenden Organisation dienen und ein Baustein für einen entsprechenden Verdacht sein können) und nicht bloße Vermutungen oder Unterstellungen, wird in der Praxis oft schon deshalb nicht beachtet, weil man dies gar nicht reflektiert. Das Gesetz verlangt als Beobachtungsvoraussetzung einen Verdacht, der auf Tatsachen gestützt ist und nicht lediglich auf den Verdacht, daß solche Tatsachen vorliegen könnten.

Auch wird in der Praxis nicht hinreichend bedacht, daß und in welcher Weise entlastende Umstände in die Bewertung einbezogen werden müssen. Wenn die Verfassungsschutzbehörden nur nach belastendem Material suchen, arbeiten sie nicht als objektive Behörden zum Schutz der Verfassung, sondern können von vornherein nur die Wirklichkeit verzerrende Ergebnisse erzielen.

Außerdem ist zu fordern, daß die „Gesamtschau“, in welcher die Verfassungsschutzbehörde die Anhaltspunkte bewertet, um zu einer Entscheidung über die Einstufung einer Organisation als Verdachtsfall, als Fall erwiesener Verfassungsfeindlichkeit oder als Fall, der in den Verfassungsschutzbericht aufgenommen wird, zu kommen, rational strukturiert und das Ergebnis nicht bloß intuitiv über den Daumen gepeilt wird. Nur auf diese Weise ist die Nachvollziehbarkeit der Bewertung gewährleistet.

Die Verfassungsschutzbehörden täten gut daran, die sich aus Gesetz und Verfassung ergebenden Kriterien für die Beobachtung und für die Berichterstattung im Verfassungsschutzbericht nicht als unziemliche Einengung ihrer Aktivitäten zu begreifen. Sie können ihre Aufgabe nur dann richtig erfüllen, wenn sie selbst die Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaat achten, die zu schützen sie berufen sind.






Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Jahrgang 1948, ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg. Er ist auch als Prozeßvertreter in großen Verfahren vor dem Bundesverfas-sungsgericht (Vertrag von Lissabon, „Euro-Rettung“, EZB-Staatsanleihenkäufe) bekannt geworden.

Dietrich Murswiek: Verfassungsschutz und Demokratie. Voraussetzungen und Grenzen für die Einwirkung der Verfassungsschutzbehörden auf die demokratische Willensbildung, Dun­cker & Humblot, Berlin 2020, broschiert, 187 Seiten, 39,90 Euro. Der Beitrag auf dieser Seite ist – mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag – eine gekürzte Fassung des Einleitungskapitels.