© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/20 / 24. Januar 2020

Überleben war eine Zufallsfrage
Befreiung von Auschwitz: Oft wurden die „Todesmärsche“ der KZ-Häftlinge zum finalen Martyrium
Stefan Scheil

Elie Wiesel wurde im Januar 1945 vor eine schwere Entscheidung gestellt. Es näherten sich sowjetische Truppen dem KZ Auschwitz, in dem er inhaftiert war. Wie der spätere Friedensnobelpreisträger berichtet, beschloß die Lagerleitung deshalb die Evakuierung des Lagers. Sie verkündete diese Entscheidung, stellte es kranken Häftlingen aber frei, ob sie mit den abziehenden deutschen Uniformträgern mitgehen oder lieber auf die anrückende Rote Armee warten wollten. Dieses plötzliche Freiheitsangebot nach Jahren der Willkür weckte Mißtrauen, so Elie Wiesel. Konnte ausgeschlossen werden, daß diejenigen einfach erschossen würden, die lieber auf den russischen Einmarsch setzten? Am Ende entschloß er sich, sicherheitshalber lieber in Richtung Deutschland mitzumarschieren, zusammen mit seinem Vater und weiteren über 50.000 KZ-Häftlingen.

Diese Episode gewährt einen Einblick in einen kleinen Ausschnitt all dessen, was sich in dem umfangreichen System aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern aller Art in den letzten Kriegsmonaten abspielte. Dem immer mehr absehbaren Untergang begegneten die Verantwortlichen vor Ort mit höchst unterschiedlichen Entscheidungen. Aus dem schrumpfenden deutschen Machtbereich gab es keinen Ausweg, aber Platz für Aktionismus, Ungewißheit und falsche Hoffnungen blieb darin noch genug. Häftlinge gerieten dabei zwischen die Fronten, ihr Überleben wurde eine Frage des Zufalls. Eine von der deutschen Bundesregierung geförderte Darstellung kommt sogar zum Fazit, in dieser Zeit sei die in der Rassegesetzgebung vorgegebene Rangordnung unwichtig geworden.

„Todesmärsche“, unter diesem Stichwort werden die Evakuierungsaktionen in den letzten Monaten des Dritten Reiches in der Forschung zusammengefaßt. Sie folgten keinem einheitlichen Muster, darüber ist man sich überwiegend einig. Eine allgemeine, etwa von der Spitze des NS-Staates ausgehende Befehlslage gab es nicht. Man verhielt sich in der Regel so, als ob es weiterhin um Frontbegradigung gehen würde und um die Räumung von Gebieten, die demnächst wieder zurückerobert werden könnten. Also fanden die Evakuierungen der Lager immer erst wenige Tage vor dem Einrücken des Gegners statt, teilweise schon unter Beschuß. Entsprechend hoch fielen die Opferzahlen aus und wurde die Zivilbevölkerung teilweise direkt mit Toten konfrontiert. 

 Bei minus 20 Grad in offenen Waggons

Wie auch unter diesen Umständen noch simuliert wurde, das lasse sich in den Griff kriegen, zeigt ein Schreiben vom 31. Januar 1945. An diesem Tag verschickte der Staatsminister im Protektorat Böhmen und Mähren, Karl Herrmann Frank, einen dringenden Erlaß, „unsinnigen Gerüchten“ entgegenzutreten. Eisenbahntransporte von Häftlingen aus dem „Osten“, seien notgedrungen bei minus 20 Grad in offenen Waggons durch das Protektorat geführt worden. Dabei seien Verstorbene von Mithäftlingen aus dem Zug geworfen worden und etliche Personen bei Fluchtversuchen aus dem fahrenden Zug ums Leben gekommen. Über die Ursachen sei die tschechische Bevölkerung „mündlich aufzuklären“.

Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge hatten in der deutschen Kriegswirtschaft eine bedeutende Rolle gespielt. Der Lage entsprechend und einen wahrscheinlichen Regimewechsel vor Augen, fiel die Bereitschaft immer geringer aus, sich von diesem Umstand kompromittieren zu lassen. So suchten deutsche Unternehmen und Kommunen im Jahr 1945 vielerorts nach Auswegen. Die Reichsgruppe Industrie forderte im Februar 1945 ein Rückgaberecht von „KZ-Häftlingen, Juden und Kriegsgefangenen“ an die Gestapo und das Arbeitsamt.

Verschiedene Personen versuchten unter diesen Umständen, Verhandlungen über die noch verbliebenen Häftlinge als Eintrittskarte in die Nachkriegsära zu nutzen. Der prominenteste Fall dürfte SS-Chef Heinrich Himmler gewesen sein. Himmler versuchte schon Anfang 1944, mit den Kriegsgegnern in Gespräche zu kommen und bot Freilassungen größerer Häftlingsgruppen ins benachbarte Ausland an, um sich als kommender Partner zu inszenieren. 

In Gesprächen mit Abgesandten des Jüdischen Weltkongresses scheint er dabei größere deutsche Mordaktionen während des Krieges im Frühjahr 1945 generell abgestritten zu haben, um eine Art Vertrauensbasis zu schaffen. Das mußte absehbar scheitern, führte aber immerhin dazu, daß einige tausend Insassen aus Lagern wie Bergen-Belsen und Theresienstadt tatsächlich ins neutrale Ausland gelangten. Danach erreichte der schwedische Vizepräsident des Roten Kreuzes, Graf Bernadotte, noch einmal die Freilassung von etwa 8.000 Häftlingen. 

Unzählige andere, die im Chaos der Verlagerungen zwischen verschiedenen KZ gefangen blieben, fanden den Tod. Viele Berichte aus dieser Zeit beschreiben die schlechten Versorgungsbedingungen, fehlende Unterkünfte und schließlich den Umstand, daß die neu Evakuierten bei ihrer Ankunft in anderen Lagern auf der untersten Ebene der Lagerhierarchie eingestuft wurden. Ungewöhnliche Wutausbrüche und Mißhandlungen durch die Wachmannschaften signalisierten dies. Odd Nansen, Sohn des norwegischen Polarforschers Nansen und langjähriger Häftling in Sachsenhausen, notierte am 10. Februar 1945: „Es waren ‘unsere’ SS-Leute, die wir täglich sehen und die wir ab und zu versucht sind, als ‘nett’ und ‘ungefährlich’ bezeichnen, die die halbtoten Skelette traten, sie ausschimpften und ihnen das Krematorium versprachen.“ 

Rote Armee konnte nur noch 7.600 Häftlinge befreien

Ein tragisches Schicksal „zwischen den Fronten“ fanden jene 9.000 Häftlinge aus dem Lager Neuengamme, die Ende April 1945 auf Schiffe verladen worden waren, die in der Lübecker Bucht lagen. Von der britischen Luftwaffe, die in diesen Tagen ohnehin hemmungslos fast jedes mögliche Ziel bombardierte, um die deutschen Opferzahlen zu maximieren, wurden sie am 3. Mai angegriffen und versenkt. Nur etwa 2.500 Häftlinge überlebten.

Was das Schicksal der verbliebenen Auschwitz-Häftlinge anging, stellten sich die eingangs erwähnten Sorgen Elie Wiesels letztlich als unbegründet heraus. Wer von den erkrankten Auschwitz-Häftlingen im Januar 1945 nicht nach Deutschland mitgegangen war, der wurde tatsächlich einfach nur zurückgelassen und erlebte einige Tage später am 27. Januar seine Befreiung durch die Rote Armee. Diese fand in den drei Lagern von Auschwitz (Monowitz, Stammlager und Birkenau) noch 7.600 völlig ausgemergelte Überlebende vor.